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Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)

Titel: Unearthly. Dunkle Flammen (German Edition)
Autoren: Cynthia Hand
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Rosenwasser und Vanille, eigentlich eher das Parfüm einer alten Dame. Das gibt mir jedes Mal ein Gefühl von Sicherheit.
    Als ich die Augen schließe, sehe ich immer noch den Jungen vor mir. Er steht da und wartet. Auf mich. Und das erscheint mir wichtiger als die Traurigkeit oder die Möglichkeit, bei einem Feuer einen grausamen Tod zu sterben. Er wartet auf mich.

    Ich werde geweckt vom Geräusch des Regens und dem sanften grauen Licht, das durch die Jalousie sickert. Als ich runtergehe, sehe ich meine Mutter am Küchenherd stehen und Eier in eine Rührschüssel aufschlagen. Sie ist schon angezogen, fertig für die Arbeit wie an jedem Morgen, und ihr langes rostrotes Haar ist noch feucht vom Duschen. Sie summt vor sich hin. Sie scheint glücklich zu sein.
    «Morgen», sage ich.
    Sie dreht sich um, legt den Rührlöffel weg, kommt auf mich zu und umarmt mich. Sie lächelt voller Stolz, wie damals, als ich in der dritten Klasse den örtlichen Buchstabierwettbewerb gewonnen habe: stolz, aber auch so, als habe sie nichts anderes von mir erwartet.
    «Wie fühlst du dich jetzt? Noch immer im Unklaren?»
    «Ach, mir geht’s gut.»
    «Was ist denn los?», fragt mein Bruder Jeffrey von der Tür her.
    Wir drehen uns um und sehen ihn an. Er lehnt am Türpfosten, noch ganz zerzaust vom Schlaf, riecht ein bisschen und ist so grantig wie immer. Ein Morgenmensch ist er noch nie gewesen. Er sieht uns an, und ein Anflug von Angst huscht über sein Gesicht, als wolle er sich gegen eine furchtbare Nachricht wappnen. So als wäre jemand gestorben, den wir kennen.
    «Deine Schwester hat ihre Aufgabe erhalten.» Wieder lächelt Mama, nur diesmal nicht so triumphierend. Ein vorsichtiges Lächeln.
    Er mustert mich von oben bis unten, als könnte er irgendwo an meinem Körper ein sichtbares Zeichen des Göttlichen finden. «Du hattest eine Vision?»
    «Ja. Es war ein Waldbrand.» Ich mache die Augen zu und sehe alles noch einmal vor mir: den dicht mit Kiefern bestandenen Hang, den orangefarbenen Himmel, den vorbeiziehenden Rauch. «Und ein Junge.»
    «Woher willst du wissen, dass es nicht bloß ein Traum war?»
    «Ich habe doch gar nicht geschlafen.»
    «Und was bedeutet das nun?», fragt er. Diese ganzen Engelsachen sind neu für ihn. Er ist noch in dem Alter, in dem das Übernatürliche irgendwie spannend und cool ist. Darum beneide ich ihn.
    «Keine Ahnung», antworte ich. «Das muss ich noch herausfinden.»

    Zwei Tage später wiederholt sich die Vision. Ich drehe gerade meine Runden auf der Außenbahn des Sportplatzes der Mountain View High School, und plötzlich überfällt es mich, einfach so. Die Welt, wie ich sie kenne – Kalifornien, Mountain View, der Sportplatz –, verschwindet urplötzlich. Ich bin wieder in dem Wald. Ich kann das Feuer buchstäblich schmecken. Diesmal sehe ich, wie die Flammen den Hügelkamm erklimmen.
    Und dann renne ich beinahe eine aus der Cheerleader-Truppe über den Haufen.
    «Pass doch auf, Trottelin!», sagt sie.
    Ich stolpere zur Seite, damit sie vorbeikann. Keuchend atme ich ein und aus, lehne mich gegen die zusammengeklappte Zuschauertribüne und versuche, die Vision zurückzuholen. Aber das ist genauso unmöglich, wie in einen Traum zurückzukehren, wenn man erst einmal wach ist. Die Vision ist weg.
    Mist. «Trottelin» hat mich bis jetzt noch niemand genannt. Soll wohl die weibliche Form von «Trottel» sein. Bescheuert.
    «Nicht stehen bleiben!», ruft Mrs Schwartz, die Sportlehrerin. «Wir wollen möglichst genau wissen, wie schnell du die Meile läufst. Ja, du bist gemeint, Clara.»
    In ihrem früheren Leben muss sie Ausbilderin bei der Armee gewesen sein.
    «Wenn du es nicht in unter zehn Minuten schaffst, musst du nächste Woche noch mal laufen», brüllt sie.
    Ich renne wieder los und versuche, mich aufs Laufen zu konzentrieren. Als ich die nächste Kurve nehme, behalte ich das rasche Tempo bei, um etwas von der Zeit gutzumachen, die ich verloren habe. Aber mit meinen Gedanken bin ich schnell wieder bei der Vision. Die Umrisse der Bäume. Der Waldboden unter meinen Füßen, übersät von Steinbrocken und Kiefernnadeln. Der Junge, der mir den Rücken zugewandt hat und das Feuer betrachtet, das immer näher kommt. Und dann mein plötzlich so ungeheuer schnell schlagendes Herz.
    «Letzte Runde, Clara», ruft Mrs Schwartz.
    Ich lege an Tempo zu.
    Wieso ist er da?, frage ich mich und halte die Augen offen, sehe aber immer noch sein Bild vor mir, wie eingebrannt auf meiner Netzhaut. Wird er
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