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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer
Autoren: Corina Bomann
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zurückgeschrieben hatte. Oder hatte er ihn gar nicht bekommen? War er bei der Stasi gelandet, genau wie alle Bemühungen meiner Mutter, uns zu sich zu holen?
    Claudius legte mir den Arm um die Taille. »Sobald alles geregelt ist, besuchst du mich in Westberlin. Und dann planen wir unsere Reise nach Italien. Ganz offiziell. Wir hatten fürs Erste genug Gefahr, oder?«
    Ich wollte schon behaupten, dass es gar nicht so schlimm war, aber das stimmte natürlich nicht. Es war schlimm. Nur Claudius’ Gegenwart hatte mich davon abgehalten, zu verzweifeln. Als er krank gewesen war, war es schon ziemlich krass.
    »Ja, genug Gefahr«, stimmte ich ihm zu. »Aber wann wollen wir die Reise denn machen? Ich werde sicher wieder zur Schule müssen.«
    »Auch unsere Schulen haben Ferien. Und eine Menge Feiertage mehr als ihr. Wir werden schon eine Gelegenheit finden.«
    Ein wenig enttäuscht war ich schon, hatte ich ihn und mich doch schon an einem Mittelmeerstrand gesehen. Aber er hatte recht, das konnte alles noch werden. Wenn ich erst einmal im Westen angekommen war.
    Es zeigte sich, dass die Frauen in meinem Zimmer richtiglagen. Es tat sich etwas in der Botschaft, und zwar schon am nächsten Tag. Die Nachricht verbreitete sich in Windeseile. Außenminister Hans-Dietrich Genscher war in der Botschaft eingetroffen, zusammen mit Innenminister Seiters und einem ganzen Pulk von Reportern. Was würde nun kommen? Würde man die Flüchtlinge dazu auffordern zu gehen oder ihnen eine Lösung anbieten?
    Banges Warten. Die Luft vibrierte vor Erwartung. Einige Leute, die schon vorher die Flinte ins Korn geworfen hatten, weinten. Ich stand mit Claudius auf dem Hof. Wo Lorenz sich herumtrieb, wusste ich nicht, aber er kam schon zurecht. Alle warteten gespannt, was die beiden mächtigen Männer, die eben in der Botschaft verschwunden waren, tun würden. Obwohl das Wetter draußen alles andere als warm war, mochte niemand in der Botschaft sein – aus Angst, dass er etwas verpassen würde. Alle drückten sich auf dem Hof herum, der Geruch, der über den Zelten schwebte, war furchtbar. Es musste etwas getan werden. Heute!
    Während ich mich an Claudius schmiegte, dachte ich an all das zurück, was sich innerhalb von drei Monaten abgespielt hatte.
    »Hier«, sagte Claudius und reichte mir einen Kopfhörer des Walkman. »Wir sollten ein bisschen Musik hören. Dann vergeht die Zeit besser.«
    Wir lauschten den Liedern, die uns zusammengeführt hatten, den Liedern, die von einem leisen Rauschen begleitet wurden, aber gerade dadurch so vertraut waren.
    Als es schließlich Abend und dann Nacht wurde und die Spannung kaum noch zu ertragen war, traten sie, beleuchtet von Scheinwerfern und fotografiert von einem Haufen Kameras, auf den Balkon.
    Ich kannte Genscher nur aus dem Fernsehen, und da war er sogar deutlicher zu sehen gewesen als jetzt, da er direkt vor uns stand.
    Im nächsten Augenblick wurde es so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Ein Knacken ging durch die Lautsprecher. Irgendwo weinte ein Kind, doch alle hatten nur Augen für den Botschaftsbalkon, auf dem sich die Politiker aufreihten.
    Einen Moment herrschte vollkommene Stille, dann tönte die Stimme Hans-Dietrich Genschers durch die Lautsprecher.
    »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …«
    Mehr verstand man nicht, denn die Menge brach in lauten Jubel und Geschrei aus. Leute weinten, fielen sich in die Arme. Auch ich klammerte mich an Claudius und begann zu weinen.
    Auch wenn der Schrei den Rest der Worte verschluckt hatte, wussten doch alle hier, dass es vorbei war.
    »Milena!« Ich spürte eine Hand an meinem Arm. Als ich mich zur Seite wandte, sah ich ins Gesicht meiner Mutter. Wie hatte sie mich in dieser brodelnden Menge gefunden?
    Offenbar war sie schon länger hier und hatte die Ansprache mitbekommen. Tränen glitzerten in ihren Augen. »Hast du das gehört? Alle hier dürfen ausreisen!«
    »Ich hab es gehört«, entgegnete ich und umarmte sie. »Aber was ist mit mir?«
    Sie streckte mir einen Zettel entgegen. »Wir haben eine Lösung gefunden. Wenn du willst, darfst du bei mir leben. »
    Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Alles ging jetzt so einfach – warum hatte es nicht schon vor Jahren geklappt?
    Meine Mutter zog mich jedenfalls in ihre Arme und hielt mich, sehr lange. Und dann war es wieder Claudius, der mich umarmte.
    »Aber wir fahren doch noch ans Meer!«, erinnerte ich ihn.
    »Ja, wir fahren ans
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