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Und morgen am Meer

Und morgen am Meer

Titel: Und morgen am Meer
Autoren: Corina Bomann
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Meer, aus dem hin und wieder ein Ertrinkender auftauchte, der anstatt um Hilfe zu rufen Liedfetzen trällerte oder zusammenhanglose Sätze stammelte. Was würde Sabine sagen, wenn ich ihr das als Experimentalmusik unterjubelte? Besser als Modern Talking war’s allemal …
    Als ich mich genervt zurücklehnte, strich ein Windhauch über mein Gesicht. Berliner Sommerluft. Sobald die Sonne höher stieg und es warm wurde, roch die Stadt nach Asphalt, Staub, Trabi und Geranien. Sie roch nach Kneipe, Qualm und Seife, nach Katze und nassem Rasen. Nach Zwiebeln und Sellerie und dem Muff, der in Hausaufgängen nistete.
    Ich öffnete die Augen und schielte auf die Armbanduhr. Fünfzehn Minuten noch.
    »Mach schon«, flüsterte ich beschwörend, während ich begann, mit dem Radio in meinem Zimmer herumzulaufen – jedenfalls soweit es das Aufnahmekabel erlaubte. Dabei kam mir Opa in den Sinn – und sein Bruder Erwin.
    Opa hatte lange Zeit gedacht, dass Erwin im Krieg gefallen sei, doch dann kam Anfang der Achtziger eine Einladung von ihm nach Hamburg. Da Opa wegen seines amputierten Beins nicht fahren konnte, kam Onkel Erwin, wie ich ihn nannte, zu uns nach Berlin. Ich erinnerte mich, dass er mir furchtbar alt erschienen war mit den vielen Furchen im Gesicht und den schneeweißen Haaren. Doch seine Augen waren laubgrün gewesen, wie die Bäume im Humannpark.
    Stets brachte er uns Westsachen mit, Süßigkeiten und Konservendosen, nach denen man im HO stundenlang anstehen musste, wenn es sie denn überhaupt mal gab. Manchmal waren auch ein Pullover oder ein paar Haarklammern für mich dabei. Eines Tages schenkte er Opa das Radio. Mensch, war ich da neidisch! Es war orangefarben, in den Knöpfen konnte man sich spiegeln und die Skala der Sender war riesengroß!
    Opa hatte es stolz auf den Küchenschrank gestellt und dort blieb es eine ganze Weile.
    Eines Tages dann, als ich ihn besuchte, bat er mich, das Radio auf den Balkon zu holen.
    »Brauchst keinen anderen Sender einstellen wegen mir«, sagte ich schnell, denn manchmal machte er das, weil er wusste, dass ich die Schlager, die er so gern hörte, nicht mochte.
    »Nu hol’s schon«, brummte er und sah mir hinterher, wie ich durch die Balkontür verschwand. Als ich es ihm brachte, zwitscherte irgendeine Sängerin was von einem himmelblauen Trabant, der übers Land fuhr.
    Opa nahm mir das Radio ab, betrachtete es kurz, strich mit der Hand über das Gehäuse und reichte es mir: »Hier, nimm es mit und pass gut darauf auf.«
    »Warum?«, fragte ich, worauf er nur lächelte, mich an sich zog und mir einen Kuss auf die Stirn gab.
    Ein paar Tage später starb er, und als mir klar wurde, dass dies sein Abschiedsgruß gewesen war, verkroch ich mich für mehrere Tage in mein Zimmer und heulte wie ein Schlosshund.
    Nun war Opa schon fünf Jahre tot, und noch immer hatte ich das Radio. Ich hatte ihm versprochen, darauf aufzupassen, und ich hielt meine Versprechen.
    »Gut, dann nicht!«, murrte ich und wollte schon das Kabel rausziehen, da wurde der Empfang plötzlich klar. Gitarrenakkorde. Das Heulen eines Synthesizers. Ich hatte es! Schnell drückte ich die Tasten meines Rekorders und verschwand dann in Richtung Kleiderschrank, wo ich mein FDJ -Hemd griff.
    Unten auf dem Küchentisch erwarteten mich wie immer, wenn Papa Frühschicht hatte, meine Frühstücksstullen. Papa fing heute um sechs an, seit mindestens halb sechs war er aus dem Haus. Die Stullen hatten also schon reichlich Gelegenheit gehabt, das Pergamentpapier mit Fettflecken zu verzieren.
    Manchmal fragte ich mich, wie es morgens in anderen Familien aussah, in denen die Mutter noch lebte.
    Als Mama starb, war ich gerade erst zwei Jahre alt. Wirklich erinnern konnte ich mich nicht an sie. Papa hatte nur wenige Fotos von ihr. Ein einziges Mal hatte er mir eins gezeigt. Mama hatte darauf eine geblümte Bluse und einen Minirock getragen und in die Kamera gelacht. Papas Miene war beim Anschauen ganz seltsam geworden.
    Martina Paulsen, die als Krankenschwester gearbeitet hatte, war im Auto von Freunden verunglückt und zusammen mit ihnen verbrannt. Deshalb hatte sie auch nur ein Urnengrab bekommen, irgendwo in Mecklenburg, von wo wir nach Berlin umgezogen waren. Dagewesen waren wir nie. Bestimmt ließ Papa es von irgendwelchen Fremden pflegen, denn er meinte mal, er halte es nicht aus, den Grabstein anzuschauen.
    Und er konnte es wohl auch nicht aushalten, die Fotos anzusehen. Wo Papa sie versteckte, wusste ich nicht, aber es war
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