Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Uebergebt sie den Flammen

Uebergebt sie den Flammen

Titel: Uebergebt sie den Flammen
Autoren: Tilman Röhrig
Vom Netzwerk:
Tagen und Nächten der Gesetzgebung hatte Johann kaum geschlafen. Rothmann suchte mit den gelehrten Prädikanten im Alten und Neuen Testament, sie fanden den Willen des großen Gottes, jeder Schritt in der Stadt Zion war durch die Schrift gerechtfertigt.
    Im Mai wehrten die Kinder des Neuen Jerusalem den ersten gewaltigen Ansturm der Feinde ab.
    »Wär Gott nicht mit uns auf diese Zeit, wir hätten müssen verzagen!«, stimmte der Prophet die Siegeshymne an. Weiter taumelten die Auserwählten dem Herrscher über alle Herrscher entgegen.
    »Der Lehrer fragt uns jeden Tag, was die Eltern zu Hause sprechen«, berichtete Lisabeth ihrer Mutter.
    Nicht nur die Zimmer müssen ihnen offen stehen, durch unsere Kinder lassen sie das Denken bewachen! Wendel setzte sich mit ihrer großen Tochter an den Eichentisch. »Zeig mir deinen Taler.«
    Stolz fingerte Lisel nach dem Band an ihrem Hals, zog es mit der Münze unter dem Hemd vor.
    »Sieh her.« Wendel beugte sich zu der Tochter, hielt ihre Münze daneben. »Die Buchstaben sind dieselben, D. W. W. F.: Das Wort ward Fleisch. Jeder von uns trägt solch einen Taler, das ist unser Erkennungszeichen. Wir sind gleich.« Lisabeth nickte, und Wendel sah, dass sie nichts verstanden hatte.
    »Es ist ganz leicht, wenn dein Lehrer dich fragt, dann antwortest du: Wir glauben an den großen Gott und gehorchen den Worten des Propheten Jan van Leiden.« Immer wieder übte die Mutter mit ihrer Tochter diesen Satz. Und Knipperdolling tanzte mit der Menge um die blutenden Rümpfe der Unvorsichtigen.
    Euer Plan ist Wirklichkeit! Wendel sah zum Goldgewölbe hinauf, das jetzt beide Kerker überstrahlte. Mehr kann ein Mensch nicht erfinden.
    Im Juli trug Divara schwerfällig ihren Bauch durch die Halle des prachtvollsten der Bogenhäuser, sprach nur noch von dem Kind, ließ jeden fühlen, wie heftig der Sohn des Erleuchteten sich bewegte. »Der Same eines Propheten ist aus demselben göttlichen Stoff«, erläuterte sie die Weissagung ihres Jan van Leiden, »es ist sein Sohn, den ich im nächsten Monat austragen werde«, und fragte Wendel nach den Schmerzen, war froh, dass eine erfahrene Frau mit ihr unter einem Dach lebte.
    Der Sommer war heiß. Eines Nachts wurde Bockelson beobachtet, wie er heimlich in die Kammer einer Magd schlüpfte.
    »Der Prophet treibt Hurerei!«
    Entsetzen. Ehe das Gerücht die Gläubigen verwirrte, handelten die Würdigsten, unterstützt von den Gelehrten. »Die Schrift erlaubt dem Manne, viele Frauen zur gleichen Zeit zu besitzen!«
    Empört wehrten sich Kleingläubige, sperrten den Bock und seine Ratgeber ein. Nur einen Tag währte der Aufstand, dann befreite das Volk den Führer. Die Lust des Propheten war zum Gesetz geworden.
    »Was willst du mir noch erklären?« Wendel saß auf der Kante des breiten Lagers und hatte die Hände im Schoß zusammengelegt. Vor ihr stand Johann, zerrte den Bart, schlug die Fingerspitzen, verschränkte die Hände auf dem Rücken, nahm sie hastig wieder nach vorn. In solch gehetzter Unruhe hatte ihn Wendel noch nie gesehen.
    »Es ist das Gebot des Propheten.«
    »Euer Gesetz bestraft Hurerei mit dem Tod. Hast du das vergessen?«
    »Jetzt ist es keine Unzucht mehr, war es nie!« Johann wischte den Schweiß von der Stirn. »Versteh doch, Wendel. Auch wir Prädikanten haben gerungen. Aber der Prophet hat uns ermahnt und verlangt, dass wir die Schrift richtig lesen sollten.«
    Mein Leben erstickt, niemand muss mich mit dem Schwert töten, ihr erwürgt mich ohne Hände. »Sag es mir, Johann. Wo steht es geschrieben?«
    Die Frage erlöste ihn. Weite Schritte, vor dem Bett auf und ab. »Abraham, David, Jakob, die Väter des Alten Testaments haben viele Weiber gehabt. Die Stadt braucht Kinder aus gutem Blut. Unser Same darf nicht länger unnütz verschwendet werden, an Schwangere, an alte Frauen, an Weiber, die nicht mehr gebären können.«
    Langsam senkte Wendel den Kopf. »Nach der Geburt deiner toten Tochter kann ich kein Kind mehr empfangen.«
    »Gib mir nicht die Schuld!« Johann trat die Stiefelspitze gegen den Holzkasten der Bettstatt. »Zur Ehre Gottes müssen wir sein Volk vermehren, das befiehlt der Prophet«, und schluchzte auf, warf sich neben Wendel auf das Lager, hämmerte die Sätze in die weiche Decke. »Jeder soll drei oder vier Weiber heiraten oder mehr. Der Prophet geht mit seinem Beispiel voran! Weil er Divara nicht beschlafen kann, hat er zwei Frauen genommen!« Johann kämpfte mit dem Kissen. »Er verlangt, dass auch wir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher