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Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel

Titel: Über mir der Himmel - Nelson, J: Über mir der Himmel
Autoren: Jandy Nelson
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Piepton lege ich auf, dann rufe ich noch einmal an, wieder und wieder, ein ums andere Mal, will sie einfach aus dem Hörer ziehen. Ein einziges Mal lege ich nicht auf.
    »Warum hast du mir nicht erzählt, dass du heiratest?«, flüstere ich, ehe ich das Handy zuklappe und auf ihren Schreibtisch lege. Denn das verstehe ich nicht. Haben wir einander denn nicht alles erzählt? Wenn das hier nicht unser Leben verändert, Len, dann weiß ich auch nicht , hatte sie beim Streichen gesagt. Ist dies die Veränderung, die sie sich damals gewünscht hat? Ich nehme den kitschigen Plastik-Antonius in die Hand. Und was hat es mit ihm auf sich? Warum hat sie ihn mit nach oben gebracht? Ich schaue mir das Bild genauer an, gegen das er sich lehnt. Es hängt hier schon so lange, dass das Papier vergilbt ist und die Ecken sich eingerollt haben, so lange, dass ich ihm schon Jahre keine Beachtung mehr geschenkt habe. Bailey hat das Bild gemalt, damals war sie ungefähr elf gewesen. Zu dieser Zeit begann sie, Grama mit unerbittlicher Grausamkeit nach Mom auszufragen.
    Wochenlang hatte sie nicht lockergelassen.
    »Woher weißt du, dass sie wiederkommt?«, hatte Bailey zum zehntausendsten Mal gefragt. Wir waren in Gramas Malzimmer und ich lag auf den Fußboden hingegossen und malte mit Pastellkreiden, während Grama mit dem Rücken zu uns in der Ecke eine ihrer Damen auf eine Leinwand bannte. Den ganzen Tag war sie Baileys Fragen schon ausgewichen und hatte geschickt immer wieder das Thema gewechselt,
aber dieses Mal klappte es nicht. Ich beobachtete, wie Grama den Arm sinken ließ, Tropfen hoffnungsvollen Grüns kleckerten vom Pinsel auf den bespritzten Fußboden. Sie seufzte einen tiefen, einsamen Seufzer, dann drehte sie sich zu uns um.
    »Ich vermute, ihr seid jetzt alt genug, Mädels«, sagte sie. Wir waren sofort hellwach, legten gleich die Pastellkreiden beiseite und schenkten ihr unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.
    »Eure Mutter ist … nun ja … wie soll man das am besten beschreiben … na … lasst mich nachdenken …« Bailey sah mich schockiert an – dass Grama die Worte fehlten, war noch nie da gewesen.
    »Was, Grama?«, fragte Bailey. »Was ist sie?«
    »Hmmm …« Grama biss sich auf die Lippe, dann endlich sagte sie zögernd: »Ich nehme an, am besten sagt man das so … ihr wisst ja, dass manche Menschen von Natur aus bestimmte Neigungen haben, ich male und gärtnere, Big ist ein Baumpfleger, und du, Bailey, willst Schauspielerin sein, wenn du groß bist …«
    »Ich werde auf die Juilliard gehen«, sagte sie.
    Grama lächelte. »Ja, das wissen wir, Miss Hollywood – oder vielleicht doch besser Miss Broadway.«
    »Und unsere Mom?«, erinnerte ich sie, damit wir nicht schon wieder über diese blöde Schule reden mussten. Wenn Bailey unbedingt dahin wollte, hoffte ich nur, dass sie noch zu Fuß erreichbar war. Oder wenigstens mit dem Rad, damit ich sie jeden Tag besuchen konnte. Ich hatte zu große Angst gehabt zu fragen.

    Grama presste einen Moment lang die Lippen aufeinander. »Okay, na gut, eure Mutter, sie ist ein bisschen anders, sie ist eher so was wie … na ja, wie eine Forschungsreisende.«
    »Wie Kolumbus, meinst du das?«, fragte Bailey.
    »Ja, genau so, nur ohne die Nina , die Pinta und die Santa Maria . Einfach nur eine Frau, eine Landkarte und die Welt. Eine Solistin.« Dann verließ sie den Raum, ihre bevorzugte und wirksamste Art, ein Gespräch zu beenden.
    Bailey und ich starrten einander an. In all unseren Spekulationen darüber, wo Mom war und warum sie gegangen war, hatten wir uns nie etwas vorgestellt, das auch nur annähernd so gut war. Ich lief Grama hinterher und wollte mehr erfahren, aber Bailey blieb auf dem Fußboden sitzen und malte dieses Bild.
    Darauf ist eine Frau, die mit dem Rücken zu uns auf dem Gipfel eines Berges in die Ferne schaut. Grama, Big und ich – unsere Namen stehen unter unseren Füßen – winken der einsamen Gestalt vom Fuß des Berges aus zu. Unter dem Bild steht in Grün Forschungsreisende . Aus irgendeinem Grund hat Bailey sich nicht selbst mit auf das Bild gemalt.
    Ich lege den heiligen Antonius an meine Brust und drücke ihn ganz fest. Ich brauche ihn jetzt, aber warum hat Bailey ihn gebraucht? Was hatte sie verloren?
    Und was hatte sie finden müssen?

    (Gefunden auf der Innenseite des Umschlags von Sturmhöhe, in der Bibliothek von Clover)

9. Kapitel

    (Gefunden auf der Wand im Waschraum von Cecilias Bäckerei)

    SEIT ZWEI WOCHEN sind Schulferien. Grama, Big und
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