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Ueber Gott und die Welt

Ueber Gott und die Welt

Titel: Ueber Gott und die Welt
Autoren: Robert Spaemann
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konterrevolutionär.
    Der Nationalsozialismus erschien mir als Bruch mit einer 2000-jährigen, übrigens von mir natürlich sehr idealisierten europäischen Gesittung.
    Welche Rolle spielte damals für Sie der nationalsozialistische Zeitgeist?
    Er zwang mich, in zwei Welten zu leben, eine Situation, die für meine Hinwendung zur Philosophie sicher wichtig war. Da war einmal die offizielle Welt. In ihr durfte man gewisse Dinge nicht sagen, ja es war klug, möglichst wenig zu sagen. Und es gab die dazu konträre Welt, in der ich aufwuchs. Es war im Wesentlichen die christliche. Wenn man genötigt wird, die Welt auf zwei Weisen anzuschauen, sich mit einer zu identifizieren und die andere abzulehnen – die Nationalsozialisten waren ganz einfach die Feinde –, regt das natürlich zum Nachdenken an: Warum haben wir recht und sie unrecht?
    Waren die NS-Jugendorganisationen ein Teil der offiziellen Welt, wie Sie es nennen?
    Gewiss. Zum so genannten Jungvolk hatte ich zu erscheinen. »Die Hitler-Jugend« ab dem 14. Lebensjahr konnte ich irgendwie umgehen. »Irgendwie« – das heißt, ich weiß nicht mehr, wie. Mich erreichte nie eine Aufforderung, dieser Organisation beizutreten.
    Davor kam das sogenannte »Jungvolk«. Das hieß vor allem marschieren. Es war der reine Stumpfsinn. Die anderen Kinder trugen alle eine Uniform, nur ich nicht. Meine Eltern hatten mir keine gekauft. Zur Strafe musste ich immer ganz am Schluss hinterher marschieren. Geschämt habe ich mich nicht, eher war ich stolz, keine zu besitzen.
    Wenn mich der Fähnleinführer anschnauzte, warum ich noch immer keine Uniform hätte, antwortete ich: »Meine Eltern können das nicht bezahlen.«
    Mussten Sie Parteiparolen auswendig lernen?
    Nein, es blieb beim Marschieren, beim Absingen von Liedern und allerlei Lauf- und Turnübungen. Die Fähnleinführer spielten sich wie Unteroffiziere auf, schimpften und kommandierten uns herum. Es war äußerst abstoßend. Eigentlich geschah da nichts, was Kinder für den Nationalsozialismus hätte gewinnen können.
    Empfanden Sie keine Gemeinschaftsgefühle in der Gruppe Gleichaltriger?
    Doch, aber in einer anderen Gruppe, einer Gruppe der Gegenwelt. Ich war Mitglied im Bund Neudeutschland, einem 1919 von Jesuiten gegründeten Schülerverband. Dort hatte ich meine Kameraden. Dort fühlte ich mich beheimatet.
    Als er verboten wurde, machten wir trotzdem Wanderungenin den Wäldern, immer auf der Hut, dass die Polizei uns nicht auf die Schliche kam. Das war viel aufregender als die Übungen beim Jungvolk.

    INDIANERSPIELE
    Wie alle Jungen zu meiner Zeit habe ich Indianer gespielt. Und irgendwann habe ich mir das Spiel kaputtgemacht. Natürlich schlugen wir uns in die Büsche, je unwegsamer und urwaldmäßiger, desto besser. Die großen Wege dachten wir weg. Und dann kam der GAU: Ich wollte, dass alles so echt indianisch sein sollte wie möglich. Aber was würden denn wirkliche Indianer tun, wenn sie im Wald auf einen breiten und ebenen Weg stießen? Sie würden natürlich auf diesem Weg gehen und sich nicht durch das Unterholz quälen. Also ging ich auf dem Weg. Aber was war denn nun noch das Indianermäßige? Um weiter Indianer zu spielen, musste ich aufhören, zu denken, wie ein echter Indianer in dieser Situation denken würde. Das Bemühen um Authentizität zerstört sich selbst.
    Und das blieb mein Lebensthema: Unmittelbarkeit und das vergebliche Bemühen um Unmittelbarkeit und Authentizität. Gewollte Unmittelbarkeit ist eben nicht mehr Unmittelbarkeit.
    In meinem Fénelon-Buch »Reflexion und Spontaneität« habe ich diese einfache und übrigens nicht originelle Entdeckung – ohne Indianer – zur Sprache gebracht. Begleitet hat mich die Sache lebenslang. Als ich später Kleists Schrift »Über das Marionettentheater« las, fand ich genau das thematisiert, worin ich ein Grundmotiv meines Denkens zu sehen glaube.
    Die ersten sich durchhaltenden Denkmotive sind ja nichtselbst Resultate diskursiven Denkens. »Sympathie und Antipathie sind die ersten Akte der Vernunft«, heißt es bei Gómez Dávila – Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies und Trauer über die Unmöglichkeit einer Rückkehr – außer für kurze Momente der Überwältigung durch das Schöne, das nicht von dieser Welt ist und von außen in die Welt hineinragt.
    HAYINGEN
    Ein Traum vom Paradies war für mich der erste Besuch im Sommer 1938 bei meiner Großmutter, die damals gerade in ein altes Häuschen in Hayingen gezogen war, einer Stadt mit 600 Seelen
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