Trigger - Dorn, W: Trigger
Vorhang vor ihre Gedanken zog.
Über das, was nach diesem Moment geschah, kann nur spekuliert werden. Selbst Lara konnte sich nicht daran erinnern, und höchstwahrscheinlich ist das auch gut so. Ihr Verstand nahm sich die Pause, die er benötigte, um das Geschehene zu verdrängen und sich in ihr neues Ich zu flüchten.
Niemand war Zeuge, wie Lara die schrecklichen Ereignisse aus ihrer Erinnerung verbannte und zu dem anderen Mädchen wurde, das künftig von seiner Mutter bei seinem zweiten Vornamen, Ellen, gerufen wurde.
Niemand, außer vielleicht das Weizenfeld neben der Scheune, das sie neunzehn Jahre später in einem Traum von einem roten Briefkasten wiedersehen sollte. Oder der Feldweg, auf dem sich eine letzte Pfütze gegen die Sommersonne behauptete und Blasen warf, die neugierigen Augäpfeln zu gleichen schienen.
Am nächsten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, entdeckten Hermann Talbach und zwei Männer aus dem Dorf das Mädchen. Lara hatte sich in die Höhlung einer knorrigen Baumwurzel verkrochen. Zusammengekauert wie ein Igel, sah sie die Männer aus angstgeweiteten Augen an und hielt ein moosiges Holzstück an sich gedrückt, als sei es eine Puppe.
Kapitel 43
Nachdem Nicole ihre Erzählung beendet hatte, sackte sie schluchzend in sich zusammen. Mark legte einen Arm um ihre Schultern und ließ ihr Zeit, all die angestauten Gefühle aus sich herauszuweinen, die sie über so viele Jahre zurückgehalten hatte.
»Wollen Sie jetzt lieber ein wenig für sich sein?«, fragte
er, als sie sich wieder beruhigt hatte und sich die Nase putzte.
Nicole schüttelte den Kopf. »Nein, es geht schon wieder.« Sie sah ihn aus geröteten Augen an und lächelte schwach. »Danke.«
»Wofür?«
»Dass ich es endlich loswerden konnte.«
Mark nickte, griff nach seinen Zigaretten, überlegte es sich dann aber doch anders. »Sie mag es nicht, wenn ich rauche, wussten Sie das?«
»Vielleicht, weil ihr Vater ein ziemlich starker Raucher war.«
»Kann sein. Für jede Aversion gibt es eine Ursache. Und genau darüber denke ich gerade nach.«
»Über das, was Lara nicht mochte?«
»Nein, über die Ursache, den Auslöser für diesen Zusammenbruch«, sagte Mark und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Über das, was man im Fachjargon den Trigger nennt. Bis vor wenigen Tagen hat die Ellen-Identität bei ihr funktioniert, doch dann auf einmal nicht mehr. Ich frage mich, was der Grund dafür ist. Für gewöhnlich bildet die autoplastische Abwehr eines Traumas bei solchen Störungen eine aus therapeutischer Sicht schier uneinnehmbare Bastion. Die Schutzpersönlichkeit stellt sich gewissermaßen wie ein Zerberus vor jegliche Erinnerung, um den zerbrechlicheren Persönlichkeitsanteil vor dem Kollaps zu bewahren. Ohne therapeutische Intervention ist eine schrittweise Wiedererlangung verdrängter Erinnerungen so gut wie unmöglich. Aber in ihrem Fall begann die innere Mauer plötzlich zu bröckeln. Das verstehe ich nicht. Warum hat sie auf einmal diese Halluzinationen gehabt?«
»Vielleicht wird sie es uns verraten, sobald sie wieder spricht.«
Mark schüttelte den Kopf. »Ich denke nicht. Menschen, die aus einer Fugue in die Realität zurückkehren, können sich danach an nichts mehr von dem erinnern, was sie in dieser Phase getan haben. Ganz gleich, wie lange der Zustand auch angedauert hat. Eine Art mentaler Selbstschutz.«
Erschrocken sah Nicole ihn an. »Aber das würde ja bedeuten, dass Lara auf dem Stand einer Neunjährigen wäre, wenn sie wieder zu sich kommt, oder?«
Mark wiegte den Kopf hin und her. »Einerseits ja, aber mit Gewissheit kann ich das nicht sagen. Bislang habe ich wie gesagt noch nie von einem Fall gelesen, bei dem die Fugue über einen derart langen Zeitraum angehalten hat. Es kann durchaus sein, dass im Lauf der Therapie ein Teil der Erinnerungen und des Wissens aus ihrer Zeit als Ellen zurückkehrt. Aber ganz am Anfang … nun ja, ich denke, ganz am Anfang wird sie erst einmal das Mädchen sein, das sie zum Zeitpunkt ihrer Verdrängung war.«
»O Gott«, stöhnte Nicole und hielt sich die Hand vor den Mund. Ihre Augen verschwammen hinter Tränenschleiern.
»Deshalb ist es wichtig, dass sie in gute Hände kommt«, fügte Mark hinzu. »Wir haben an der Waldklinik einen hochqualifizierten Experten, der sich um sie kümmern sollte. Ich habe das bereits vorhin mit dem behandelnden Arzt besprochen. Sobald Lara transportfähig ist, wird man sie nach Fahlenberg bringen.«
»Zurück in die Klinik, in der sie als
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