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Trieb

Trieb

Titel: Trieb
Autoren: Martin Krist
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zum Checkpoint Charlie. »Da.«
    »Da sitzt keiner«, erklärte Kalkbrenner.
    »Da«, wiederholte der Trödler und deutete mit der Hand einen Bogen in die Zimmerstraße an.
    Tatsächlich hockte der Gesuchte etwas abseits in der Nebenstraße, grimmig hinter einem Trödeltisch voller Plunder verborgen. Sein bleiches Gesicht, das zwischen einer zerrupften Schapka und einem dicken Wollschal hervor lugte, war von tiefen Sorgenfalten zerfurcht. Den Oberkörper verbarg er bis zum Hals unter einer Wolldecke. Seine Füße, die in hohen Winterstiefeln mit Fellbesatz steckten, lagen auf einem großen Pappkarton, in dem er vermutlich noch mehr DDR -Ramsch aufbewahrte. Als Stankowski die beiden Gestalten nahen sah, lächelte er in der Hoffnung auf ein Geschäft. Doch die Freude erlosch, als Kalkbrenner und Muth sich als Kriminalbeamte auswiesen. »Wir kommen wegen Ihrer Frau Lydia.«
    »Ja«, antwortete Stankowski. »Das habe ich mir fast gedacht.«
    »Lydias Bruder hat sie als vermisst gemeldet.«
    Der Händler nickte.
    »Sie vermissen Ihre Frau nicht?«
    Nun schüttelte er den Kopf.
    Kalkbrenner und Muth wechselten einen überraschten Blick. »Aber Lydia ist doch verschwunden, oder nicht?«
    Wieder ein Kopfnicken.
    »Seit wann ist sie denn verschwunden?«
    Stankowski dachte kurz nach. »Zwei Wochen.«
    »Und Sie haben sich keine Sorgen gemacht?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Reise«, flüsterte er.
    Kalkbrenner beugte sich vor. »Wie bitte?«
    »Sie ist verreist.«
    »Verreist?«, wiederholte Kalkbrenner, weil er sich noch immer nicht sicher war, ob er richtig verstanden hatte.
    »Ja«, bestätigte der Händler.
    Kalkbrenner ließ einen Moment verstreichen. Weil Stankowski nichts weiter sagte, fragte er schließlich: »Wie kommen Sie darauf?«
    »Wegen der Arbeit.«
    Wieder vergingen einige Sekunden. »Wegen der Arbeit?«
    Der Händler seufzte. »Meine Arbeit hat ... Lydia nicht gepasst.«
    »Hat es deswegen wiederholt Streit zwischen Ihnen und Ihrer Frau gegeben? Lydias Bruder erwähnte ...«
    »Ja, Streit«, unterbrach Stankowski und hustete. »Das stimmt. Immer wieder gab es Streit.« Er verfiel erneut in Schweigen, durchbrochen nur vom Rasseln seiner Lunge.
    »Worüber haben Sie gestritten?«, erkundigte sich Muth.
    Stankowski raffte die Decke enger um den Körper. Seine Stimme war ein heiseres Flüstern. Die beiden Beamten mussten näher treten, um ihn zu verstehen. »Lydia wollte was erleben«, nuschelte er. »Sie wollte in Urlaub fahren, raus aus der Kälte hier. Um die Welt reisen. Warme Strände, wissen Sie?« Er stöhnte und es klang, als würde er jeden Moment seinen letzten Atemzug tun. »Aber es stimmt ja ...« Seine Hand kam unter der Decke zum Vorschein und deutete beschämt auf die Relikte einer vergangenen Zeit. »... viel kann man damit nicht verdienen.«
    »Warum haben Sie sich keine andere Arbeit gesucht?«
    »Das hat Lydia auch gesagt. Immer wieder.« Stankowski sog die Luft ein. »Aber in meinen Alter? Ich bin 59. Glauben Sie, da finde ich noch was? Hier in Berlin? Das habe ich ihr gesagt, wissen Sie?« Wütend rückte er einige Orden auf dem Tisch zurecht, bevor er seine zitternde Hand wieder unter die Decke zog. »Nee, das hier ist das Einzige, was ich kriege.«
    »Also glauben Sie, Ihre Frau hat Sie verlassen?«, unterbrach Kalkbrenner.
    Stankowski zögerte, dann nickte er. »Lydia sagte, irgendwann würde ich mich schon umsehen. Irgendwann sei sie weg. Auf Reisen. Um die Welt. Endlich. Das hat sie gesagt. Immer wieder. Und ich ...«
    Eine Gruppe älterer Touristen trat an den Tisch und begann, in einem Mischmasch aus Englisch und Deutsch auf den Verkäufer einzureden. »Wir ... coming ... from Neuseeland.«
    »Ah«, machte Stankowski.
    »Es ist ... very cold ... in Germany.« Sie zeigten auf Stankowskis Kopfbedeckung. Er nickte verstehend, schob die Decke beiseite, erhob sich von seinem Schemel und zog den Karton unter dem Tisch hervor. Er klappte den Deckel auf und brachte nagelneue Schapkas zum Vorschein.
    »Sie haben noch welche?«, staunte Kalkbrenner.
    »Ja, ja.« Stankowski reichte den Leuten aus Übersee die Mützen, während er ihr Geld dankend in Empfang nahm.
    »Haben Sie auch noch eine für mich?«, erkundigte sich Kalkbrenner.
    Der Händler händigte ihm wortlos eine Mütze aus.
    Kalkbrenner blätterte das Geld auf den Tisch. »Wie kommt es, dass Sie noch welche haben, und die anderen ... Moment mal!« Er wog die Schapka prüfend in den Händen. »Das ist zwar gut gemacht, aber ... Ich bin
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