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Trieb

Trieb

Titel: Trieb
Autoren: Martin Krist
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damit aufgewachsen, ich kenne diese Mützen.« Er befühlte das glatte Leder im Innern und das weiche Fell außen. »Das ist keine echte Schapka aus Russland, oder?«
    »Nein«, gestand Stankowski. »Selbst gemacht, wissen Sie? Ich bin gelernter Hutmacher.« Er nickte in Richtung Friedrichstraße. »Aber das brauchen die da drüben nicht zu erfahren.« Er klappte die Kiste zu. Er schob sie zurück unter den Tisch. »Würde nur Ärger bedeuten.«
    Kalkbrenner zog sich die Mütze über den kalten Schädel. Muth grinste. Dann nahm sie eines der Militärabzeichen vom Tisch, ein russischer Verdienstorden, und hielt es sich vor die Augen. »Aber das ist nicht selbst gemacht, oder?«
    Stankowski wischte sich die Nase. »Die beschafft mir ein alter Freund aus Polen.«
    »Aus Polen?« Jetzt griff Muth nach einem farbigen Stück Beton. »Etwa auch die Mauerreste?«
    Stankowski lächelte gequält. »Natürlich nicht. Die besorge ich hier in Berlin.«
    »Und die sind tatsächlich echt?«, zweifelte Kalkbrenner.
    Stankowski stellte eine entrüstete Miene zur Schau. »Was denken Sie denn?«
    »Aber die NVA -Uniformen, die Vopo-Mäntel, die gibt es doch auch nur noch in begrenzter Stückzahl, oder? Ich meine, 20 Jahre nach der Wende dürfte deren Kontingent doch bald ...«
    »Es gibt noch eine Menge!« Stankowski plumpste zurück auf seinen Schemel. Er breitete die Decke über sich aus. »Man braucht nur Beziehungen. Muss wissen, wie man daran kommt.«
    »Zum Beispiel in Polen?«
    »Ja, zum Beispiel.«
    »Und das wird tatsächlich gekauft?«, argwöhnte Muth.
    »Ja, von den Touristen. Leute aus aller Welt. Auch 20 Jahre nach der Wende noch.« Stankowski hustete und seine Lunge rasselte unter der Anstrengung. »Und es reicht für die Miete. Und eine warme Mahlzeit am Tag.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Aber nicht für einen Urlaub.«
    Darauf gab es nicht viel zu erwidern. Die beiden Polizisten verabschiedeten sich und eilten zurück zum Wagen. Als sie den Passat erreichten, fragte Muth: »Und? Was glaubst du?«
    Kalkbrenner entriegelte die Autotüren und fiel auf den Fahrersitz. »Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Frau ihren Mann verlässt.« Er sah zu dem Straßenhändler zurück. »Gute Gründe hat sie ja.«
    »Er kann einem leidtun«, meinte Muth. »Ich kann mir Besseres vorstellen, als in der Kälte zu hocken und diesen Ramsch zu verscherbeln.«
    »Stimmt.« Kalkbrenner zupfte sich die Schapka vom Kopf, strich mit der Hand über das weiche Fell, dann warf er sie auf die Rückbank. »Trotzdem bleibt die Frage, warum seine Frau nicht wenigstens ihrem Bruder Bescheid gegeben hat, bevor sie durchgebrannt ist.«
    »Du meinst ...?!«
    Kalkbrenner startete den Wagen. »Zumindest sollten wir eine Spur von ihr finden. Im Reisebüro. Am Bahnhof. Am Flughafen. Irgendwo.«
    »Und wenn nicht?«
    Er schaltete die Heizung an. Eine warme Brise erfüllte das Wageninnere. Kalkbrenner atmete durch. »Dann hoffen wir, dass wir bei Stankowski eine Spur von ihr finden.«
    Juri Stankowski schaute den Beamten hinterher. Als sie mit ihrem Wagen von der Friedrichstraße auf die Leipziger Straße bogen, näherte sich ein junges Pärchen seinem Stand. Die Worte, die die Teenager miteinander wechselten, klangen nach Spanien. Vielleicht aber auch Portugal. Egal, die eisigen Temperaturen machten dem Mädchen ganz schön zu schaffen. Sie zitterte unter ihrer Jacke, rieb sich die Hände, hielt sich die frierenden Ohren.
    Dir kann geholfen werden,
dachte Stankowski und erhob sich von seinem Schemel. Schnell zog er den Karton hervor, öffnete den Deckel und brachte eine weitere Schapka zum Vorschein. Er schwenkte sie mit den Händen und rief: »Braucht ihr eine warme Mütze?«
    Neugierig blieb das Pärchen stehen.
    Stankowski lächelte. »Diese Mützen sind etwas Besonderes, wisst ihr?«
    Die Teenager blickten ihn irritiert an. Sie verstanden offenbar kein Wort.
    Stankowski streichelte das Fell der Mütze. Der Junge nahm sie an sich, setzte sie seiner Freundin auf. Sie lachten über den Anblick. Aber das Mädchen ließ erkennen, dass es genau das war, was die Kälte erträglicher machte.
    Nachdem es bezahlt hatte, winkte Stankowski dem verliebten Pärchen hinterher. Dann beugte er sich zur Kiste hinab und entnahm ihr eine weitere Schapka. Versonnen fuhren seine Finger über das Leder im Innern.
Wie glatte Haut,
dachte er und strich durch das Fell.
Wie echtes Haar.
»Jetzt bist du also endlich auf Reisen.« Er lächelte. »Viel Spaß in Spanien.
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