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Trieb

Trieb

Titel: Trieb
Autoren: Martin Krist
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Wolfgang Werner von der Beratungsstelle
SUB/WAY
berlin e.V.
»Denn der Freier, der sich einen Callboy bestellt, erwartet etwas anderes als der, der sich am Bahnhof einen jungen Mann nimmt.«
    Was allerdings beide Freiertypen eint, ist die Überzeugung,
nicht
schwul zu sein.
    Erstaunlicherweise ist »die Begegnung mit einem Stricher irgendwas, was auch immer – gleichgeschlechtlich, aber nicht schwul!« erklärt der Polizist Matthias A. aus Düsseldorf. »Keiner der beiden Seiten würde sagen, er wäre schwul. Meist sind es die Familienväter, die einen normalen, geordneten Familienverhältnis entstammen und ein Abenteuer suchen. Wobei ›meist‹ relativ ist. Erwiesen ist, dass in den seltensten Fällen ein homosexueller Mann zum Stricher geht, um ihn für seine sexuellen Praktiken zu gebrauchen. Das gibt es zwar auch, aber dann besteht meist ein festes Stricher-Freier-Verhältnis. Schwule Männer werden eher fündig in der Klappe, wobei sich auch dort Stricher auf der Suche nach Freiern herumtreiben.«
    »Wir haben sehr viele Jungs, die sich als heterosexuell beziehungsweise bisexuell verstehen«, weiß Karin Fink von
KISS
, der Beratungsstelle für Stricher in Frankfurt.
    Trotzdem unterliegen sie, so Rainer Ulfers, »zunächst einer doppelten Stigmatisierung – sie sind sowohl schwul als auch Stricher, gehören also gleich zwei gesellschaftlichen Randgruppen an.« Demnach ist ihre Diskriminierung größer als bei weiblichen Prostituierten. Ein Grund, warum viele Jungs auch nicht zum Sozialamt gehen und erklären, dass sie Stricher waren. Sie haben Angst davor, noch mehr diskriminiert zu werden als sie es vorher sowieso schon wurden. Grundsätzlich haben die meisten der Jungs ohnehin keine Identität als Stricher. Sabine Reinke: »Die wenigsten bezeichnen sich selbstbewusst als Stricher. Die meisten gehen ›halt mal mit und kriegen Geld dafür‹.«
    Das heißt: In ihren eigenen Augen prostituieren die Jungs sich nicht. Was aber machen sie dann? Was genau sind Stricher eigentlich?
    Meist sind es so genannte Trebegänger
,
von zu Hause oder aus dem Heim geflohen, die sich in der Umgebung der Großstadtbahnhöfe anbieten. Rainer Ulfers erklärt »Spiegel Online«: »Der Bahnhofskarriere voraus gehen meist eine Heimkarriere oder zerrüttete Familienverhältnisse.«
    Karin Fink konkretisiert: »80, 90 Prozent der Jungs haben bereits Missbrauchserfahrung körperlicher wie seelischer Art, in ihren Familien, in Heimen oder wo immer sie untergekommen sind.«
    Wolfgang Werner: »Es reißt ja nicht der gewöhnliche Mittelschichtsjunge aus, der daheim eine intakte Familie und im Kinderzimmer seine Playstation hat. Es haut ja meistens der ab, der das nicht hat, also Jungs, die aus einer sogenannten ›broken home family‹ kommen.«
    Noch einmal Karin Fink: »Außerdem ist eine Tendenz feststellbar, dass die Jungs immer früher von zuhause abhauen und anschaffen gehen, also dass das Alter immer jünger wird. Mir fällt auf, dass die Jungs immer mehr Probleme aufweisen: Das soziale und familiäre Umfeld ist häufig sehr früh gestört. Durch die Grenzöffnung, vor allem die Öffnung nach Osteuropa, sind vermehrt Jungs bei uns gestrandet, die über keinen regulären Aufenthaltsstatus verfügen, hier in Deutschland aber trotzdem versuchen, Fuß zu fassen, indem sie das ›Phantasma‹ des goldenen Westens leben. Insofern hat auch die Zahl der Stricher zugenommen.«
    Rainer Ulfers: »Der Ausländeranteil unter den Strichern liegt bei fast 40 Prozent, es gibt viele Polen und Tschechen sowie einige Rumänen. Nach der Wende kamen vermehrt Jungs aus den neuen Bundesländern, meist mit ähnlichen sozialen Hintergrund wie ihre westdeutschen Kollegen und in akuter Geldnot.«
    Nicht selten haben die Jungs, die sich als Stricher verdingen müssen, bereits eine entsprechende Sozialisierung hin zur Prostitution erfahren. Sie sind als junge Ausreißer im Alter von zehn oder elf Jahren in die von Sozialarbeitern und -pädagogen so genannten Pädo-Kreise geraten.«
    In den Pädo-Kreisen ist das Verhältnis zwischen den Jungen und den Männern ein ganz anderes als in der weiblichen Prostitution – Stichwort ›väterlicher Freund‹.
    Karin Fink: »So paradox es sich anhört: Viele der Jungs erleben die Szene als ein Abenteuer. Für sie ist die Szene eine Art Ersatzfamilie. Sie fühlen sich dort geborgener als jemals zuvor.«
    Dass die Jungs für diese Geborgenheit sexuelle Dienstleistungen erbringen müssen, ist häufig nur ein notwendiges
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