Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Treffpunkt Irgendwo

Titel: Treffpunkt Irgendwo
Autoren: Thomas Fuchs
Vom Netzwerk:
»Ich verkleide mich total gerne. Ich gehe als außerirdische Superheldin. Meine Ma hat so ein Lackkleid, das ist echt super. Habe ich bei ihr hinten im Kleiderschrank entdeckt. Dazu Strapse und High Heels. Und du?«
    »Mia, wie lange kennen wir uns jetzt?«, fragte ich sie mit einem tiefen Seufzer. »Du weißt, ich hasse es, mich zu verkleiden.«
    »Aber du musst!«
    »Ja, ich weiß. Na schön, dann verrate ich es dir halt. Ich gehe als geklonte Erdlingsreplikation.«
    »Und das heißt?« Mia sah mich fragend an.
    »Ich gehe so, wie ich immer herumlaufe.«
    »Aber das geht doch nicht…«
    »Doch.« Ich blieb stehen. »Meinetwegen schminke ich mich noch ordentlich. Mehr Verkleidung ist nicht drin.«
    »Du bist doof.«
    »Lieber doof als bescheuert.«
    »Also, du kommst wirklich nicht noch mit zu mir?« Wir waren vor Mias Haus angekommen.
    »Nein, sorry, echt nicht.«
    »Ach ja, was mir noch einfällt.« Mia drehte sich am Gartentor noch einmal um. »Louisa hat mich gefragt, ob wir das mit dem Brunnen70 nicht noch mal angehen wollen. Sie sagt, dass alle, die da waren, total begeistert waren und dieser Laden echt ein must ist. Sie schlägt Freitag vor.«
    »Ich weiß nicht«, murmelte ich. »Ich sag dir morgen Bescheid.«
    »See you.«
    Dass Mia das Brunnen70 erwähnte, brachte mir mit einem Schlag die Erinnerung an diesen Abend zurück. Da ich mit niemand darüber gesprochen habe, was an diesem Abend wirklich passiert war, hatte ich die Geschichte inzwischen erfolgreich verdrängt. Die Geschehnisse an diesem Abend in Mitte waren eine einmalige Episode gewesen, absolut unüblich für mich und mein normales Leben. Ich lebte in Marienfelde, einer ehemaligen Vorstadtsiedlung von Berlin. Vor über hundert Jahren als Villenkolonie gegründet und dann im Laufe der Zeit irgendwann von Groß-Berlin geschluckt. Wir wohnten in einer dieser in den Siebzigerjahren gebauten Reihenhaussiedlungen. Meine Grundschule war um die Ecke, ebenso der Gutspark Marienfelde und die Dorfkirche, immerhin das älteste erhaltene Gebäude Berlins. Das wilde Berlin, wie es im Fernsehen gezeigt wurde, kannte ich nur aus der Entfernung. Doch mir hat das auch nie gefehlt. Ich war glücklich in meinem kleinen Dorf am Stadtrand. Im Gutspark habe ich Fahrradfahren gelernt; die weiten Felder im direkt anschließenden Brandenburg waren genial, um als Kind große Expeditionen zu unternehmen; meine jetzige Schule befand sich direkt am ehemaligen Mauerstreifen, es war einfach alles gut. Ähnlich behütet kann man vermutlich in einem bayrischen Dorf aufwachsen oder in einem Vorort von Frankfurt. Meine Freundinnen wohnten höchstens zehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt. Mia kannte ich seit dem Kindergarten, ebenso die meisten Mädchen aus meinem Verein.
    Das an diesem Abend war irgendwie nicht mir passiert, so fühlte es sich inzwischen zumindest an. Doch da hatte ich mich getäuscht. Denn als ich wenig später die Haustür aufschloss, fand ich im Briefkasten ein Schreiben vom Polizeipräsidenten von Berlin. Adressiert an mich.
    Mir wurden die Knie weich, ich spürte einen kalten Griff um meinen Bauch und ich konnte plötzlich nur noch ganz flach atmen. Ich schloss die Haustür hinter mir und schob mich in den kleinen Vorraum. Ich legte meine Schultasche ab, zog meine Winterstiefel aus und stellte sie wie in Trance auf die Abtropfschale, hängte meinen Wintermantel an die Garderobe, dann öffnete ich die Tür zur Küche. Es war Mittwoch, da hatte meine Mutter bis in den frühen Abend Unterricht. Auf dem Herd stand der Topf mit der üblichen Mittwochssuppe, ein kleiner Post-it-Zettel klebte am Deckel.
    »Einfach auf Stufe 4 langsam zum Kochen bringen. Guten Appetit. PS: Und denke bitte an Klavier.«
    Ich setzte mich an den kleinen Tisch gegenüber der Arbeitsplatte, weiterhin den Brief fest umklammert.
    Ich wusste zwar nicht genau, was in dem Brief stand, doch hatte ich so eine ungute Ahnung. In der Tageszeitung war am Montag nach meinem Erlebnis im Berlinteil ein großer Artikel gewesen. Über die Auseinandersetzungen zwischen jugendlichen Autonomen und der Polizei am Wochenende. Ein besetztes Haus war geräumt worden. Im Zusammenhang mit der Räumung hatten jugendliche Sympathisanten randaliert. Bei fast dreißig Geschäften seien die Scheiben eingeschlagen, die Schaufenster geplündert und Autos angezündet worden. Der Polizei sei es gelungen, den harten Kern der vermummten Randalierer in Mitte zu stellen, es sei zu straßenschlachtartigen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher