Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumzeit

Traumzeit

Titel: Traumzeit
Autoren: Barbara Wood
Vom Netzwerk:
Gesteinsschichten. Leuchtendgrüne Bänder zogen sich durch Rot, Orange und Braun. Sie spürte, wie sich die Haare in ihrem Nacken sträubten, aber nicht weil sie Angst hatte, sondern von der Kraft des Berges. Vielleicht lag es an dem Magnetismus, wie Lisa gesagt hatte. Aber vielleicht war es auch etwas anderes. Joanna fragte sich: Kann ein Berg einen Pulsschlag haben, eine Kraft wie ein Mensch?
    Der Pfad wurde schmaler. Die Wände rückten so nahe zusammen, daß der Stein ihre Schultern berührte. Die Decke war jetzt so niedrig, daß sie sich bücken mußte. Tiefer und tiefer führte sie dieser Pfad, tief in das Herz der Erde. Manchmal wurde der Gang so schmal, daß sie kaum wagte, weiterzugehen.
    Die Zeit verging, die Dunkelheit nahm zu. Bei jedem Schritt spürte sie das Gewicht und die Masse des Bergs. Joanna hörte ihren eigenen Atem, und er klang viel zu laut. Sie glaubte, wenn sie stehenblieb, dann würde sie ihren Herzschlag so laut wie Donner hören, dessen Echo sich an den unterirdischen Felswänden brach.
    Sie drang immer weiter in die Tiefe vor. Das Blut pochte ihr in den Ohren. Die Luft veränderte sich und wurde schwerer. Die Fackel qualmte, die Flamme zuckte. Joanna fürchtete, sie werde ausgehen. Sie wußte, ohne Fackel befand sie sich wie eine Blinde in undurchdringlicher Dunkelheit.
    Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie blieb stehen und lauschte. Es war ein leises rhythmisches Klopfen.
    Ihre Pupillen weiteten sich in der Dunkelheit. Das Licht der Fackel war so schwach, daß sie nur wenige Schritte weit sehen konnte. Bei jedem Schritt hatte sie das Gefühl, durch festen, schwarzen Fels zu gehen. Aber der Pfad führte immer tiefer hinab.
    Hin und wieder blieb Joanna stehen und lauschte. Das Klopfgeräusch setzte nicht mehr aus. Manchmal schien es lauter, dann wieder leiser.
    An den Felswänden entdeckte sie plötzlich seltsame Zeichnungen. Im Schein der zuckenden Flamme schienen die Gestalten auf den Wänden zu tanzen und sich zu bewegen. Sie blickte staunend auf Männer und Frauen, Tiere und mystische Wesen, die vielleicht vor Tausenden von Jahren hier gelebt hatten. Je weiter sie kam, desto mehr Bilder sah sie. Die Zeichnungen wurden größer und aufwendiger. Sie schienen eine Geschichte zu erzählen, aber Joanna verstand ihre Bedeutung nicht. Sie spürte nur die Lebendigkeit des Berges und seiner Wesen, die in diesen Bildern zum Ausdruck kamen.
    Plötzlich erreichte Joanna eine große Höhle. Sie hielt den Atem an. Riesige Stalaktiten hingen von der Decke und ebenso mächtige Stalagmiten wuchsen aus dem Boden. Joanna fragte sich, ob man ihre Großmutter hierher gebracht hatte. War dies der Ort, an dem die Mütter mit ihren Töchtern die geheimen Rituale vollzogen? Das Klopfen war nun sehr laut, und Joanna stellte fest, daß es von Wassertropfen hervorgerufen wurde. Sie sah einen großen Teich mit schwarzem, tintenartigem Wasser, das sich in einer seltsamen Strömung bewegte. Die Höhle war so groß wie die Kathedrale, die sie einmal in London gesehen hatte. Auch dort fand jedes Geräusch einen lauten Widerhall, und die gotischen Pfeiler, Rippen und Gewölbe hatten der majestätischen Grotte im Bauch dieses märchenhaften Berges geglichen.
    Als sie den Boden musterte, sah sie etwas dort liegen. Sie bückte sich und fand überall verstreut die Knochen kleiner Tiere, getrocknete Früchte und die Schalen von Nüssen. Sie richtete sich auf und lauschte mit angehaltenem Atem auf das Tropfen. War hier der Ort der Kraft, die im Urgrund des Seins alles bewirkt?
    Joanna ging langsam weiter und fragte sich, ob die Kraft dieses heiligen Orts sie beobachtete. Vorsichtig ging sie am Rand des schwarzen Sees entlang und überlegte, ob in seinem Wasser möglicherweise ein unheimliches Wesen lebte. Der Rand wurde schmaler. Sie tastete sich langsam an der Felswand entlang. Aber die Wände und der Boden waren glitschig. Sie suchte einen Halt, rutschte aus, fing sich wieder, aber die Fackel fiel ihr aus der Hand und klatschte in das schwarze Wasser.
    Voller Entsetzen sah Joanna, wie die Flamme erlosch. Im nächsten Augenblick hielt sie den Atem an – ein blaßgrünes Leuchten erfüllte plötzlich die Höhle. Es kam von den Felswänden, von den Kalksteinformationen, von der gewölbten Decke über ihr – es war ein überirdisches Leuchten, das diesen Ort noch geheimnisvoller machte. Aber es ermöglichte Joanna auch, etwas zu sehen.
    Sie ging vorsichtig weiter. Sie lief am schmalen Rand des Sees entlang und
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher