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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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können sich an die Froschchöre unter sich »erinnern« und »wissen«, daß sie über Sumpfland fliegen. Andere Nachtflieger schikken ihre Rufe nach unten auf die Erde und bestimmen anhand des Echos ihre Flughöhe und die Beschaffenheit des Geländes.
    Das Heulen wandernder Fische kann durch Schiffsplanken dringen und Matrosen in ihrer Koje aufwecken. Ein Lachs kennt den Geschmack des Flusses, aus dem er stammt. Delphine entsenden Schnalzlaute zu Unterseeriffen und orientieren sich anhand des Echos, um sicher durch sie hindurchzukommen. Mir kam sogar der Gedanke, daß ein Delphin, wenn er »trianguliert«, um seine Position zu bestimmen, sich ähnlich verhält wie wir, wenn wir die »Dinge«, denen wir in unserem täglichen Leben begegnen, benennen und vergleichen und auf diese Weise unseren Platz in der Welt festlegen.
    Jedes Buch, das ich aufschlug, erhielt wie selbstverständ lich einen Bericht über den spektakulärsten aller Vogelzüge, den Flug der Arktischen Seeschwalbe – ein Vogel, der in der Tundra nistet, in antarktischen Gewässern überwintert und dann in den Norden zurückfliegt.
    *
    Ich knallte das Buch zu. Die ledernen Lehnstühle in der London Library machten mich schläfrig. Der Mann, der neben mir saß, eine Literaturzeitschrift auf seinem Bauch ausgebreitet, schnarchte. Zum Teufel mit der Migration! sagte ich mir. Ich stellte den Stapel Bücher auf den Tisch. Ich hatte Hunger.
    Draußen war ein kalter, sonniger Dezembertag. Ich hoffte, von einem Freund zum Mittagessen eingeladen zu werden. Als ich in der St. James Street am White’s Club vorbeiging, fuhr ein Taxi vor, aus dem ein Mann in einem Mantel mit Samtkragen ausstieg. Er fächelte dem Taxifahrer ein paar Pfundnoten entgegen und ging zu den Eingangsstufen. Er hatte dichtes graues Haar und geplatzte Äderchen an den Wangen, was aussah, als hätte er sich einen durchsichtigen roten Strumpf über das Gesicht gezogen. Es war – ich kannte ihn von Fotos – ein Herzog.
    In diesem Augenblick stürzte ein zweiter Mann in einem alten Armeemantel, ohne Socken und mit Stiefeln, die mit Zwirn geschnürt waren, mit einem gewinnenden Lächeln vorwärts.
    »Hm … Entschuldigen Sie die Belästigung, Sir«, sagte er mit einem starken irischen Akzent. »Ich dachte, ob Sie mir vielleicht …«
    Der Herzog hastete zur Tür.
    Ich sah den Landstreicher an, der mir bedeutsam zublinzelte. Ein paar rötliche Haarsträhnen schwebten über seiner fleckigen Kopfhaut. Er hatte wäßrige, treuherzige Augen, deren Blicke sich kurz vor seiner Nase kreuzten. Er mußte Ende Sechzig sein. So wie ich aussah, hielt er es nicht für lohnend, Forderungen an meinen Geldbeutel zu stellen.
    »Ich habe eine Idee«, sagte ich zu ihm.
    »Ja, Kom’dant.«
    »Sie sind ein weitgereister Mann, stimmt’s?«
    »Durch die ganze Welt, Kom’dant.«
    »Also, wenn Sie Lust haben, mir von Ihren Reisen zu erzählen, hätte ich Lust, Sie zum Mittagessen einzuladen.«
    »Und mir ist es ein Vergnügen, anzunehmen.«
    Wir gingen um die Ecke in die Jermyn Street in ein überfülltes, preiswertes italienisches Restaurant. Ein kleiner Tisch war frei.
    Ich schlug ihm nicht vor, den Mantel auszuziehen, aus Angst vor dem, was darunter war. Der Geruch war unglaublich. Zwei schicke Sekretärinnen rutschten von uns weg und klemmten sich die Röcke zwischen die Beine, als erwarteten sie eine Invasion von Flöhen.
    »Worauf haben Sie Lust?«
    »Hm … und worauf haben Sie Lust?«
    »Nur zu«, sagte ich. »Bestellen Sie, was Sie wollen.«
    Er überflog die Karte, die er verkehrt herum hielt, mit der Selbstsicherheit eines Stammkunden, der sich verpflichtet fühlt, die Tageskarte zu studieren.
    »Steak und Chips!« sagte er.
    Die Kellnerin hörte auf, an ihrem Bleistift zu kauen, und warf den Sekretärinnen einen wehleidigen Blick zu.
    »Rump- oder Lendensteak?« fragte sie.
    »Wie Sie wollen«, sagte er.
    »Zwei Lendensteaks«, sagte ich. »Eins halb durchgebraten, eins englisch.«
    Er löschte seinen Durst mit einem Bier, aber er war wie hypnotisiert von dem Gedanken an Essen, und Speicheltropfen erschienen in seinen Mundwinkeln.
    Ich wußte, daß Landstreicher bei der Nahrungssuche systematisch vorgehen und immer wieder zu ihren bevorzugten Mülltonnen zurückkehren. Ich fragte ihn, welche Methode er bei den Londoner Clubs anwende.
    Er dachte einen Augenblick lang nach und sagte, der beste Tip sei noch immer das Athenaeum. Zu seinen Mitgliedern zählten noch ein paar gläubige Gentlemen.
    »Ja«,
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