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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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hinaus.
    Handel bedeutet Freundschaft und Zusammenarbeit; und für den Aborigine war das wichtigste Handelsobjekt der Song. Ein Song brachte demnach Frieden. Doch ich spürte, daß die Songlines nicht unbedingt ein australisches, sondern ein universales Phänomen waren: ein Mittel, mit dessen Hilfe der Mensch sein Territorium absteckte und sein gesellschaftliches Leben organisierte. Alle nachfolgenden Systeme waren Varianten – oder Perversionen – dieses Urmodells.
    Die wichtigsten Songlines in Australien scheinen von Norden oder Nordwesten – über die Timorsee oder die Torresstraße – in das Land einzudringen und sich von dort aus nach Süden über den ganzen Kontinent zu schlängeln. Man hat den Eindruck, daß sie die Wege der ersten Australier waren – und daß sie von woanders kamen.
    Vor wie langer Zeit? Vor fünfzigtausend Jahren? Vor achtzig- oder hunderttausend Jahren? Die Daten sind belanglos, verglichen mit denen der afrikanischen Vorgeschichte.
    Und an diesem Punkt muß ich einen Sprung in den Glauben machen: in Regionen, in die mir wohl niemand folgen wird.
    Ich habe eine Vision von den Songlines, die sich über Kontinente und Zeitalter erstrecken; daß, wo immer Menschen gegangen sind, sie die Spur eines Lieds hinterließen (von dem wir hin und wieder ein Echo auffangen können) und daß diese Spuren in Zeit und Raum zu isolierten Inseln in der afrikanischen Savanne zurückführen, wo der erste Mensch den Mund öffnete, den ihn umgebenden Schrecken zum Trotz, und die erste Strophe des Weltenlieds sang: »ICH BIN!«
    Ich will noch einen Schritt weitergehen. Stellen wir uns vor, wie Urvater Adam (Homo sapiens) durch das irdische Paradies wandelt. Er setzt den linken Fuß auf und benennt eine Blume. Er setzt den rechten Fuß auf und benennt einen Stein. Das Verb führt ihn zur nächsten Strophe des Lieds. Alle Tiere – Insekten, Vögel, Säugetiere, Delphine, Fische und Buckelwale – verfügen über ein Navigationssystem, das wir mit »Triangulation« bezeichnen. Chomskys rätselhafte »angeborene Satzstruktur« wird ganz einfach, wenn man sie sich als menschliche Triangulation vorstellt, Subjekt – Verb – Objekt.
    Eine Frau aus Connecticut schrieb mir, beim Lesen von Traumpfade hätte sie damit gerechnet, auf ein Zitat aus Anne Camerons Daughters of the Copper Woman zu stoßen.
    Die Stämme an der Nordwestküste Amerikas – die Nootka, Haida, Kwakiutl und Bela Coola – leben sowohl auf den Inseln als auch auf dem Festland. Im Grunde sind sie Jäger und Sammler, doch weil es in ihren Flüssen von Lachsen nur so wimmelt und das Wild in ihren Wäldern im Überfluß vorhanden ist, hatten sie die Möglichkeit, seßhaft zu werden. Sie haben wunderbare Holzhäuser gebaut, und natürlich waren sie es, die die »Totempfähle« errichteten.
    In dieser Atmosphäre des Überflusses gab es den Adel, Krieger, Arbeiter und Sklaven. Sie hingen noch dem uralten Prinzip der Jäger und Sammler an, demzufolge Reichtum geteilt oder aber vernichtet werden muß. Das war der Anlaß für ihre »Potlatch«-Feste, bei denen der Adel seinen Reichtum vorsätzlich »tötete«. Ein Mann demonstrierte seine Verachtung für Besitz am besten, indem er einem seiner Sklaven mit einer Ritualkeule aus Karibuknochen den Kopf einschlug.
    Doch die Stämme liebten es nach wie vor, über das Meer zu fahren, und sie steuerten ihre Kanus die Strömung hinauf, die von Kalifornien bis zur Beringstraße verläuft und die sie »Klin Otto« nannten. Als Navigatoren fungierten Priesterinnen. In Sibirien waren sie als »Schamankas« bekannt. Die nachfolgend zitierten Worte einer alten Frau veranschaulichen eine über fünfzehntausend Jahre alte Tradition:
     
    Alles, was wir über die Bewegung des Meeres wußten, war in den Strophen eines Lieds enthalten. Tausende von Jahren gingen wir, wohin wir wollten, und dank des Lieds fanden wir sicher zurück. In klaren Nächten ließen wir uns von den Sternen leiten, und im Nebel gab es die Ströme und Flüsse des Meeres, die Ströme und Flüsse, die hineinfließen und zu Klin Otto werden …
    Es gab ein Lied für den Weg nach China und ein Lied für den Weg nach Japan, ein Lied für die große Insel und ein Lied für die kleinere. Sie mußte nur das Lied kennen, und sie wußte, wo sie war. Wenn sie heimkehren wollte, sang sie das Lied ganz einfach rückwärts …

37
    I ch hörte den Lärm des Flugzeugs, das zur Landung ansetzte. Ich rannte über die Rollbahn und war rechtzeitig da, um Arkady
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