Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
Vom Netzwerk:
worden.
    »Limpy?« rief Rolf, und eine schwache Stimme hallte aus einem baufälligen Wohnwagen etwas weiter bergaufwärts zurück.
    »Da oben sind sie also!« sagte er.
    Der Wohnwagen trug die optimistische Aufschrift »Erholungszentrum«. Er enthielt einen wackligen Pingpongtisch ohne Netz, der mit einer roten Staubschicht bedeckt war.
    Die drei großen alten Männer saßen auf dem Boden: Limpy, Alex und Joshua – mit Hüten. Limpy hatte einen Stetson auf, Joshua eine Yankee-Baseballmütze, und Alex trug einen wunderbaren ausgefransten Holzfällerhut.
    »Ist Titus draußen an der Bohrstelle?« fragte Rolf.
    »Sicher ist er da!« sagte Limpy.
    »Er geht nicht weg?«
    »Nä!« Er schüttelte den Kopf. »Bleibt hier.«
    »Woher weißt du das?« fragte Rolf.
    »Ich weiß es«, sagte Limpy und beendete das Gespräch.
    Rolf hatte mir bereits gesagt, daß Alex einen der Anhänger mit Perlmuscheln aus der Timorsee besaß, mit denen seit ewigen Zeiten in ganz Australien gehandelt worden war. Sie wurden bei Zeremonien zum Regenmachen benutzt: Alex’ Anhänger hatte für dieses Jahr seine Arbeit voll und ganz getan. Dann überraschte er uns, indem er mit seiner Hand zwischen die Knöpfe des Samtmantels fuhr und den Anhänger am Ende einer Schnur herauszog.
    Er hatte ein gezacktes, mäandrisches Muster und war mit rotem Ocker beschmiert: es mußte zwischen seinen Beinen auf der Erde gebaumelt haben.
    Oberflächlich betrachtet ähneln diese Anhänger einem Tschuringa, aber sie sind für Fremde nicht unbedingt geheim.
    »Und woher kommt sie?« fragte ich und zeigte auf die Muschel.
    »Aus Broome«, sagte er mit Bestimmtheit.
    Er fuhr mit dem Zeigefinger über die staubige Pingpongplatte und rasselte alle »Stops« in der Gibson-Wüste zwischen Cullen und Broome herunter.
    »Okay«, sagte ich. »Du hast die Perlmuscheln aus Broome bekommen? Was schickst du dafür zurück?«
    Er zögerte, und dann zeichnete er ein längliches Oval in den Sand.
    »Brett«, sagte er.
    »Tschuringa?« fragte ich.
    Er nickte.
    »Heilige Angelegenheit? Lieder und all das?«
    Er nickte wieder.
    »Das«, sagte ich zu Rolf, als wir davongingen, »ist höchst interessant.«

 
     
     
    Aber noch bleibt der Gesang, der das Land nennt.
    Martin Heidegger, Wozu Dichter?
    *
    Bevor ich nach Australien kam, hatte ich oft über die Songlines gesprochen, und meine Gesprächspartner wurden unweigerlich an etwas anderes erinnert.
    »Wie die ley-lines ?« fragten sie in Anspielung auf die uralten Steinkreise, Menhire und Gräber, die sich linienförmig über ganz England ausbreiten. Sie stammen aus uralten Zeiten, werden aber nur von Augen wahrgenommen, die sehen können.
    Sinologen wurden an die »Drachenlinien« von feng-shui erinnert oder an traditionelle chinesische Geomantie. Und als ich mit einem finnischen Journalisten sprach, sagte er, die Lappen hätten »singende Steine«, die ebenfalls in Linien angeordnet seien.
    Für einige stellten die Songlines die Kunst des Rückerinnerns dar. In Frances Yates’ wunderbarem Buch las ich, daß die klassischen Redner von Cicero aufwärts und auch schon vorher Erinnerungspaläste errichteten; sie machten Teile ihrer Rede an imaginären architektonischen Merkmalen fest und konnten, nachdem sie ihren Weg um jeden Architrav und jede Säule zurückgelegt hatten, ungeheuer lange Redepassagen im Gedächtnis behalten. Die Merkmale waren als loci oder »Orte« bekannt. Aber in Australien waren die loci keine mentale Konstruktion, sondern hatten seit jeher als Begebenheiten der Traumzeit existiert.
    Andere Freunde fühlten sich an die Nazca-Linien erinnert, die in die meringeähnliche Oberfläche der zentralperuanischen Wüste eingraviert sind und tatsächlich so etwas wie eine totemistische Landkarte darstellen.
    Wir haben einmal eine vergnügte Woche mit ihrer selbsternannten Hüterin, Maria Reiche, verbracht. Eines Mor gens machte ich mich mit ihr auf den Weg, um die spekta kulärste aller Linien zu sehen, die man nur bei Sonnen aufgang wahrnehmen kann. Ich trug ihre gesamte Foto ausrüstung einen steilen Berg aus Sand und Steinen hinauf, und Maria, damals in ihren Siebzigern, schritt voran. Ich war entsetzt, als ich sah, wie sie an mir vorbei nach unten rutschte.
    Ich war auf gebrochene Knochen gefaßt, aber sie lachte: »Mein Vater hat immer gesagt, wenn man zu rutschen begonnen hat, muß man weiterrutschen.«
    *
    Nein. Das waren nicht die Vergleiche, nach denen ich suchte. Nicht in diesem Stadium. Darüber war ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher