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Traumpfade

Traumpfade

Titel: Traumpfade
Autoren: Bruce Chatwin
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und Wendy zwei getrennte Haushalte eingerichtet. Rolf und die Bücher hatten den Wohnwagen. Wendy schlief, wenn sie nachts allein sein wollte, in einem Betonschuppen. Es war der Abstellraum der Schule aus der Zeit, als der Unterricht noch im Freien stattfand.
    Sie bat mich, sie zu besuchen und ihr bei der Arbeit an dem Wörterbuch zuzusehen. Es nieselte. Ein feiner leichter Regen kam von Westen herangezogen, und alle hatten sich in ihre Hütten verkrochen.
    Ich fand Wendy mit Old Alex, wie sie über einem Tablett mit botanischen Exemplaren hockten: Samenhülsen, getrocknete Blüten, Blätter und Wurzeln. Er trug den pflaumenblauen Samtmantel. Wenn Wendy ihm ein Exemplar reichte, drehte er es um, hielt es gegen das Licht, murmelte vor sich hin und sagte dann den Pintupi-Namen. Sie ließ ihn den Namen mehrere Male wiederholen, um sich der phonetischen Aussprache zu vergewissern. Dann versah sie das Exemplar mit einem Etikett.
    Es gab nur eine Pflanze, die Alex nicht kannte: den getrockneten Kopf einer Distel. »Ist mit den Weißen gekommen«, sagte er stirnrunzelnd.
    »Und er hat recht«, sagte Wendy zu mir gewandt. »Ein Mitbringsel der Europäer.«
    Sie dankte ihm, und er ging davon, die Speere über der Schulter.
    »Er ist das Wahre«, sagte sie, während sie ihm lächelnd nachsah. »Aber man darf ihn nicht zuviel an einem Tag fragen – seine Aufmerksamkeit wandert.«
    Wendys Zimmer war so nüchtern, wie das von Rolf chaotisch war. Sie bewahrte ein paar Kleider in einem Koffer auf. Da war ein graues metallenes Bettgestell, ein Waschbecken und ein Teleskop auf einem Dreifuß. »Ein altes Familienstück«, sagte sie. »Es gehörte meinem Großvater.«
    In manchen Nächten zog sie das Bett ins Freie und schlief über der Beobachtung der Sterne ein.
    Sie nahm Alex’ Tablett und ging mit mir in einen kleineren Blechschuppen, wo auf aufgebockten Tischen viele weitere Exemplare ausgebreitet waren: nicht nur Pflanzen, sondern Eier, Insekten, Vogel, Schlangen und Felsbrocken.
    »Eigentlich bin ich eine Ethnobotanistin«, lachte sie. »Aber es ist alles ein bißchen außer Kontrolle geraten.«
    Alex war ihr bester Informant. Seine Pflanzenkenntnisse waren unerschöpflich. Er konnte die Namen der Spezies herunterrasseln und wußte, wann und wo sie in Blüte standen. Für ihn waren sie wie ein Kalender.
    »Wenn man allein hier draußen arbeitet«, sagte sie, »füllt sich der Kopf mit vielen verrückten Ideen, aber es gibt niemanden, bei dem man sie ausprobieren kann.« Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte.
    »Zum Glück habe ich Rolf«, sagte sie. »Ihm ist keine Idee zu verrückt.«
    »Zum Beispiel?«
    Sie hatte nie linguistische Studien betrieben. Doch ihre Arbeit an dem Wörterbuch hatte ihr Interesse für den Mythos von Babel geweckt. Warum hatte es zweihundert Sprachen in Australien gegeben, wenn das Leben der Aborigines so gleichförmig gewesen war? Ließ sich das wirklich mit dem Stammessystem oder der Isolation erklären? Bestimmt nicht! Sie begann sich zu fragen, ob die Sprache selbst nicht vielleicht mit der Verbreitung verschiedener Spezies über das Land zusammenhing.
    »Manchmal«, sagte sie, »bitte ich Old Alex, eine Pflanze zu benennen, und dann antwortet er: ›Kein Name‹, was bedeutet: ›Die Pflanze wächst nicht in meinem Land.‹«
    Dann suchte sie einen Informanten, der als Kind dort gelebt hatte, wo die Pflanze wuchs – und fand heraus, daß sie doch einen Namen hatte.
    Das »trockene Herz« Australiens, sagte sie, sei ein Puzzle aus Mikroklimata, verschiedenen Bodenmineralien und verschiedenen Pflanzen und Tieren. Ein Mann, der in einem bestimmten Teil der Wüste aufgewachsen war, kannte dessen Flora und Fauna. Er wußte, welche Pflanze das Wild anlockte. Er kannte seine Wasserstellen. Er wußte, wo Knollen unter der Erde waren. Mit anderen Worten: indem er alle »Dinge« in seinem Territorium benannte, konnte er immer damit rechnen, zu überleben.
    »Aber wenn man ihn mit verbundenen Augen in ein anderes Gebiet führt«, sagte sie, »könnte es passieren, daß er sich verirrt und verhungert.«
    »Weil er die Orientierung verloren hat?«
    »Ja.«
    »Sie glauben, daß der Mensch sein Territorium ›macht‹, indem er die ›Dinge‹ darin benennt?«
    »Genauso ist es!« Ihr Gesicht leuchtete auf.
    »Die Grundlage für eine universelle Sprache kann es also nie gegeben haben?«
    »Genau! Ganz genau!«
    Wendy sagte, auch heute noch würde eine Aborigine-Mutter, wenn sie bei ihrem Kind die ersten
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