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Träume(h)r (German Edition)

Träume(h)r (German Edition)

Titel: Träume(h)r (German Edition)
Autoren: Rudolf Moos
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seinem kleinen Beagle Paul. Der Hund stand bellend vor ihm und wedelte aufgeweckt mit dem Schwanz. Marc beugte sich nach vorne, um den Kleinen zu streicheln. Es war nur ein kurzer, aber unangenehmer Laut, den man hören konnten. In einem hohem Bogen flog Marcs Finger davon, während sich die Kreissäge gnadenlos weiterdrehte. Im Krankenhaus aufgewacht trat der Arzt mit einem Klemmbrett in der Hand an sein Bett.
    »Alles wieder in Ordnung. Sie sind ohnmächtig geworden, mein Lieber. Ruhen sie sich jetzt aus. War sicherlich ein ganz schöner Schock für sie. Ist nicht jeder zum Zimmermann geboren. Ihren Digitus Minimus sind sie leider los!«, sagte der Doktor in fachmännischem Jargon. Marc verstand nicht recht, denn er hatte mehrfach im Fernsehen gesehen, dass abgetrennte Finger nur noch Routineeingriffe für Ärzte waren und problemlos wieder angenäht werden konnten. Ihm wurde übel, aber er riss sich zusammen.
    »Wie meinen sie das? Ich dachte das Ding könnte man einfach so wieder dranpacken«, stammelte er verzweifelt.
    »Jaja, sicher kann man das«, erwiderte der Arzt, »Voraussetzung dafür ist nur, dass ihr Finger bei uns ankommt.«
    Marc guckte den Doktor verwirrt an. Wo soll der Finger denn schon gelandet sein, fragte er sich und hob ratlos beide Hände, die Gesunde und die Verbundene, um dem Arzt ein Zeichen zu geben, dass er fortfahren sollte.
    »Ihr Hund, wie war noch sein Name? Nun ja, sie wissen schon. Er hat ihn leider unmittelbar aus der Luft gefangen und sofort verschluckt. So hat es uns ihr Vater berichtet.«
    Marcs Kinnlade klappte herunter und ihm wurde langsam schwarz vor Augen. Neun Finger. Gar nicht gut.
    »Ihr Vater konnte trotz mehrerer Versuche den Finger nicht aus ihrem Hund herausbekommen. Bei der Rettungsaktion ist tragischerweise auch ihr Hund ums Leben gekommen. Das tut mir wirklich leid für sie.«
    Marc riss die Augen weit auf. Kein Paul mehr. Kein Finger mehr. Noch weniger gut. Er konnte nur noch die Hälfte von dem verstehen, was der Arzt zu ihm sagte.
    »Machen sie sich nichts daraus. Neun Finger sind vollkommen ausreichend. Es war nicht der Daumen, denn der ist wirklich wichtig und wenigstens sind sie kein begabter Pianist gewesen«, sagte der Arzt aufmunternd und lächelte. Marc wurde bewusstlos, noch bevor er dem Quacksalber an die Gurgel gehen konnte. Seitdem lebte er mit neun Fingern und ohne seinen Beagle Paul.
    Bevor er zu Bett ging, setzte Marc sich noch an seinen Schreibtisch und zog sorgfältig das in Kalbsleder gebundene Tagebuch im Stil »Columbus« zu sich. Schon immer hatte er etwas für Ästhetik und altmodische Gegenstände übrig gehabt. Kombiniert mit seiner blühenden Fantasie häuften sich mit der Zeit bei ihm solche Dinge wie das nostalgische Tagebuch, ein Seesack der US Army, ein echter Cowboyhut und viele andere überteuerte, aber für ihn überlebensnotwendige Errungenschaften, die seine Etage füllten.
    Das Tagebuch sah aus als wäre es zweihundert Jahre alt und hätte mindestens halb so viele Kriege durchgestanden. Bei Amazon nannte sich das »Used/Vintage-Look«. Marc stellte sich einmal vor wie zwei kleine Chinesinnen im einem dunklen Kellerraum tagelang das Tagebuch mit Feilen, Schmirgelpapier und anderen Gegenständen bearbeiten mussten, damit es überhaupt so natürlich verschlissen aussehen konnte. Nicht ansatzweise abenteuerlich, wurde ihm damals bewusst. Doch jedes Mal, wenn er den Durckknopfverschluss aus Leder öffnete und kurz davor war mit dem Schreiben zu beginnen, fühlte er sich einen Moment lang wie der Kapitän eines alten Handelsschiffs oder noch besser, ein Kompanieführer, der möglicherweise heute seinen letzten Eintrag machen würde, denn jeder Tag könnte der letzte sein. Allein dafür hatten sich die 69,95€ gelohnt.
    Seine Erinnerungen schrieb Marc hin und wieder auf, seitdem er acht Jahre alt war. In der dritten Klasse hatte man sie auf einer Klassenfahrt jeden Abend in einen Raum gesetzt und dazu gezwungen ihre täglichen Sinneseindrücke festzuhalten. Frau Jäger fand nur wenige, lindernde Worte.
    »Die Erinnerung ist am Ende alles, was uns bleibt. Kinder, wenn ihr euch das in fünfzehn Jahren durchlesen könnt, dann werdet ihr es mir danken!«
    Marc dankte ihr bis heute. Noch mehr konnte er Frau Jäger dafür danken, dass sie die Schüler damals nicht in ein noch engeres Zimmerchen gedrängt hatte, um sicher zu gehen, dass auch der Letzte von ihnen einen dezenten Hauch »Schweiß No. 5« ihrer nach Verwesung duftenden
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