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Totes Zebra zugelaufen

Totes Zebra zugelaufen

Titel: Totes Zebra zugelaufen
Autoren: John Ball
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auf einmal. Sie stellte fest, daß der Mann Anfang Dreißig sein mußte, daß er mittelgroß war, ziemlich schlank und einen dezenten Straßenanzug trug. Doch das waren Eindrücke zweiter Ordnung. Als erstes sah sie — und diese Wahrnehmung überschattete alles andere —, daß der Mann ein Neger war.
    Einen Moment lang verließ sie ihr Selbstvertrauen. Nie zuvor hatte sich ein Neger um Mitgliedschaft beworben, und sie besaß eine farbigen Bekannten. Die Regeln und Vorschriften der Vereinigung verlangten, daß jeder alleinstehende Mann, der sich ohne vorherige Einführung um Mitgliedschaft bewarb, höflich, aber bestimmt abgewiesen werden mußte. Doch wenn sie sich jetzt so verhielt, dann konnte der Mann auf den Gedanken kommen, daß es wegen seiner Hautfarbe geschah, und das traf nicht zu.
    Sie spürte, daß er für ihre peinliche Lage Verständnis hatte. Er kam ein paar Schritte näher und blieb dann stehen.
    »Mein Name ist Virgil Tibbs«, erklärte er. »Im Büro des Sherrifs bat man mich, hier vorbeizukommen. Ich bin Polizei- Beamter.«
    Lindas erste Empfindung war Erleichterung — sie brauchte ihn nicht abzuweisen. Das also war Virgil. Ihr fiel Sheriff Morrisseys Bemerkung ein, daß Tibbs kein Zebra sei. Morrissey hatte recht, es war ihm gelungen, sie hereinzulegen. Während sie das Tor öffnete, beschloß sie, sich auf nette Weise bei Morrissey zu revanchieren. Er hätte ihr sagen können, was sie zu erwarten hatte.
    »Kommen Sie herein, Mr. Tibbs«, forderte sie den Polizeibeamten auf. »Sie wissen ja, daß Sun Valley Lodge ein Gelände für Freikörperkultur ist. Der Parkplatz für Besucher ist da vorn. Lassen Sie den Wagen stehen, und kommen Sie dann über den Fußweg zum Haus. Ich erwarte Sie dort.«
    »Danke«, sagte Tibbs. Er stieg ohne ein weiteres Wort in seinen Wagen und fuhr durch das Tor.
    Linda fand seine Stimme angenehm, ruhig und beherrscht, ohne die Spur eines Akzents. Sie eilte wieder über den Rasen auf das Haus zu und wartete dort auf ihn. Sie wollte sehen, wie Tibbs sich bewegte. Sie fand, daß sich aus Haltung und Gangart eines Menschen viel erkennen ließ, schon gar, wenn dieser Mensch zum erstenmal ein Nudistencamp betrat. Vögel zwitscherten, die Luft war erfüllt von Leben und Wärme. Es fiel schwer, sich in dieser Umgebung zu vergegenwärtigen, daß auf der Betonumrandung des Schwimmbeckens ein toter Mensch lag. Ein Mensch, der vielleicht ermordet worden war.
    Virgil Tibbs näherte sich. Ihr gefiel seine Art sich zu geben. Sie spürte, daß er Selbstvertrauen besaß — nicht aggressive Selbstsicherheit, sondern die Ausgeglichenheit eines Menschen, der seinen Weg macht. Es war eine ruhige, unauffällige Sicherheit.
    »Die anderen sind in der Küche und trinken Kaffee«, berichtete Linda. »Möchten Sie auch hineingehen?«
    »Mir wäre es lieber, wenn Sie mir erst zeigen könnten, wo ... das Unglück geschehen ist«, versetzte Tibbs.
    »Kommen Sie.«
    Es gefiel ihr, daß er die Pflicht voranstellte. Ihr Vater hatte ihr die Wichtigkeit dieser Einstellung beigebracht.
    Als sie aus dem Wäldchen traten, entdeckte sie, daß die Beamten und der Arzt schon zum Schwimmbecken zurückgekehrt waren. Ihr erster Gedanke überraschte sie selbst — sie waren zurückgekehrt, um Tibbs zu beweisen, daß sie auf dem Posten waren. Folglich mußte er mehr sein als ein einfacher Polizist.
    »Sind Sie bei der Kriminalpolizei?« fragte sie.
    »Ja, beim Morddezernat in Pasadena«, erwiderte er.
    Gleich darauf hatten sie das Schwimmbecken erreicht. Nachdem Tibbs den Anwesenden zugenickt hatte, hob er die Decke ein Stück hoch, warf einen Blick auf den Toten und trat dann wieder zu Linda.
    »Danke, daß Sie mich hergebracht haben«, sagte er. Mehr sagte er nicht. Er wußte, sie würde begreifen, daß er sie damit zum Gehen veranlassen wollte.
    Linda sah ihn unverwandt an. »Der Tote ist nackt, ich habe ihn schon gesehen. Ich werde weder ohnmächtig werden noch einen hysterischen Anfall bekommen.«
    Tibbs sah ihr ebenso ruhig ins Gesicht. »Versetzen Sie sich einmal an meine Stelle«, meinte er. »Was würden Sie dazu sagen, wenn Sie vor den Augen einer hübschen jungen Dame einen toten Mann enthüllen müßten, der völlig unbekleidet ist?«
    Linda spürte, daß Bill Morrissey nur wenige Schritte entfernt stand und gespannt zuhörte.
    »Das käme auf die junge Dame an«, entgegnete sie. »Vor jeder x-beliebigen würde ich es natürlich nicht tun. Aber nehmen Sie einmal an, daß die fragliche junge Dame acht
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