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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition)
Autoren: Zoë Ferraris
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nicht an, aber er beobachtete sie aufmerksam und bemerkte das Unbehagen, das sich in ihrem Gesicht ausbreitete. Sie stellte das Glas ab und atmete tief durch.
    »Nayir …«
    Sie rang mit sich. Er wollte ihr sagen, dass er so viele Monate nicht mit ihr gesprochen hatte, weil er Angst gehabt hatte, und dass diese Angst erdrückend war, riesig und formlos, so groß, dass er sie nicht mal sich selbst erklären konnte. Aber durch das Wiedersehen mit ihr war ihm klar geworden, wie sehr er sie wollte. Und er konnte nur hoffen, dass es nicht schon zu spät war. Er verspürte einen Moment der Schwäche, doch dann erfüllte ihn ein berauschendes Gefühl der Gewissheit.
    »Katya«, sagte er. »Ich weiß, ich habe meine Fehler und Schwächen und vielleicht bin ich nicht der Richtige für dich. Aber ich denke, wir können es schaffen. Wir können einen Weg finden.« Sie sah ihn noch immer nicht an. Er senkte den Kopf, bis er auf Augenhöhe mit ihr war, und versuchte, ihren Blick aufzufangen, doch sie starrte unverwandt weiter zu Boden.
    »Katya.«
    Sie schluckte, ihre Miene war ängstlich. Ohne recht zu begreifen, was er tat, hob er eine Hand an ihre Wange und zog ihr Gesicht sanft in seine Richtung. Ihre Wange war warm und weich. Sie widersetzte sich nicht. Als ihre Blicke sich trafen, sah er, dass ihre Augen feucht waren und dass Furcht in ihnen stand. Ein Impuls, der von seinem ganzen Körper getragen wurde, gab ihm den Mut, sich noch weiter zu ihr zu neigen, und er verharrte, als ihre Nasenspitzen sich berührten, für den Fall, dass sie zurückweichen würde, aber sie tat es nicht, und so küsste er sie, zuerst sanft, ein leichtes Berühren ihrer trockenen Lippen, dann drängender, während in ihm Nadelspitzen aus Licht zerbarsten.
    Katya löste sich als Erste aus dem Kuss.
    »Nayir«, sagte sie leise, erstaunt über sich selbst, aber noch erstaunter über ihn. Es stimmte also, was man sagte: Zu viel Repression führt einen Mann geradewegs in die Sünde. Sie legte eine Hand vor den Mund und stieß ein nervöses überraschtes Lachen aus.
    Noch fünf Minuten zuvor hatte sie sich vage unwohl gefühlt, weil sie nicht wusste, ob Nayir die Zeit mit ihr genoss. Einen Augenblick hatte er abgrundtief besorgt gewirkt. Und jetzt kannte sie den Grund. Natürlich hätte sie sich ihn denken können. Er hätte sie sonst niemals zu einem Essen zu zweit eingeladen. Zuerst war sie deshalb fast gekränkt gewesen, doch die Sanftheit in seiner Stimme, die Berührung seiner Hand auf ihrer Wange hatten eine Art wilde Aufsässigkeit in ihnen beiden entfacht. Sie wusste nicht mehr, was sie tat, wusste nur, dass ihr Körper es tat und ihr Verstand anscheinend in einem Sandsturm verloren gegangen war.
    Sie setzte sich auf, nahm ihr Saftglas, stellte es wieder weg. Fast wäre ihr ein Tut mir leid entfahren, aber es tat ihr nicht leid, nein, sie hatte Angst. Heiraten? Nayir? Bilder ihrer Mutter blitzten vor ihrem inneren Auge auf, die Enttäuschung, die Frustration. Ummi hatte geglaubt, einen fortschrittlichen Mann zu heiraten. Katya dagegen wusste genau, womit sie es zu tun hatte.
    »Nayir«, begann sie, »Ich habe …«
    »Du hast Angst«, sagte er. »Ich auch.«
    Verblüfft sprach sie weiter. »Ich muss wissen, dass du mich respektieren wirst. Meine Arbeit. Und alles andere, was ich vielleicht noch tun möchte.« Sie sah ihm in die Augen, als sie das sagte, und er schaute nicht weg. »Ich muss einfach wissen –«
    »Ich lasse kein Werk verloren gehen«, flüsterte er. Es klang sehr zärtlich, und der Ton seiner Stimme verriet ihr, dass er aus dem Koran zitierte. » Siehe, Ich lasse kein Werk der Wirkenden unter euch verloren gehen, sei es von Mann oder Frau; die einen von euch sind von den anderen .«
    Eine Träne drohte ihr über die Wange zu laufen. »Ich brauche etwas Zeit«, sagte sie.
    »Du musst mir heute keine Antwort geben«, sagte er.
    Als sie genug Mut gefasst hatte, ihm erneut in die Augen zu blicken, sah sie, dass er sie verstand.
    Sie gingen zurück über die Promenade zu Nayirs Auto, beide unsicher, was sie sagen sollten. Katyas Kopf war leer, und während die Stille anhielt, begann eine andere Kraft zu wirken. Chemische Reize, die Wärme des Abendwindes, die ihre Körper vereinte, idyllische Familienpicknicks wie Glücksbringer um sie herum. Fruchtbare, chaotische Freuden. Sie spürte einen Anflug von Hoffnung, dass sie vielleicht doch noch ihr Glück finden würde. Sie trat neben ihn und streifte vorsichtig, damit niemand es
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