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Totenverse (German Edition)

Totenverse (German Edition)

Titel: Totenverse (German Edition)
Autoren: Zoë Ferraris
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den Platz gefahren, deren Blaulichter im gleißenden Schein von Sonne und Moschee belanglos blitzten.
    Als der Henker aus einem der Wagen stieg, durchlief ein Raunen die Menge. Er war ein unscheinbarer Mann – etwa Mitte vierzig und mittelgroß. Er trug ein rot kariertes Shemagh und ein strahlend weißes Gewand. Das Auffälligste an ihm war der kunstvolle Krummsäbel an seiner Seite. Die Waffe aus glänzendem Silber, die gewiss mit Worten aus dem Koran graviert war, sorgte für große Augen und bewundernde Laute, als der Henker durch die Menge ging. Sein rundliches Gesicht blickte geschmeichelt, aber es war vor allem seine Durchschnittlichkeit, die Nayir frösteln ließ. Der Mann, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, Köpfe abzuschlagen, hätte sein Nachbar sein können. Wahrscheinlich hatte er Frau und Kinder.
    Die Menge folgte dem Henker wie eine gehorsame Gänseherde, darunter nur einige wenige Frauen, die nach einem guten Platz drängten, und ein Westler, möglicherweise Amerikaner, dessen Glatzkopf in der Sonne glänzte. Nayir sah einen Fremden den Arm des Amerikaners umfassen. Der Mann erschrak, doch der Fremde lächelte: »Kommen Sie«, sagte er, »ich besorge Ihnen einen guten Platz.« Er schob sich durch die Menge, und die Leute traten beiseite, um den Amerikaner durchzulassen.
    Sobald die Stelle für die Exekution vorbereitet war, führten Polizisten Fuad aus einem wartenden Van. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt und er trug eine Augenbinde. Sein ganzer Körper bewegte sich schlaff und schwerfällig. Angeblich, so wurde gemunkelt, bekamen die Verurteilten vor der Hinrichtung Beruhigungsmittel, damit sie keinen Widerstand leisteten oder dramatische Emotionen zeigten. Nayir hielt das durchaus für möglich.
     
    Das Schafott bestand lediglich aus einer Plastikplane auf dem Pflaster und einem Steinblock mit einer halbmondförmigen Mulde, in die Fuad seinen Kopf legen würde, um sich ein letztes Mal vor Allah zu verneigen.
    Nayir starrte den Stein an und fühlte sich schwer, als wäre jedes Molekül seines Körpers plötzlich zu Blei geworden. Er hatte noch nie eine öffentliche Hinrichtung gesehen, und er war nicht sicher, ob er den Anblick verkraften würde. Die Hitze war beinahe unerträglich. Unruhe erfasste die Menge, und er wurde hin und her gestoßen. Diejenigen, die unbedingt besser sehen wollten, drängten ihn nach hinten. Er schwitzte unangenehm, und die Sonne war wie eine Strafe, brannte ihm im Nacken und stach ihm Nadeln in die Kopfhaut. Er versuchte, den Henker im Blick zu behalten. Irgendwer schlug ihm auf die Schulter, es war eine Frau, die ihn mit ihrer Handtasche beiseitestieß.
    Das Gerangel unter den Zuschauern hörte auf, als einer der Polizisten Fuads Verbrechen verkündete. Nayir hörte ihn wie über einen weiten Abgrund hinweg. Das ist Fuad al-Bahari. Er wurde für schuldig befunden, eine junge Frau ermordet zu haben, und zum Tode verurteilt .
    Nayir drängte nach vorne, ohne selbst zu begreifen, wieso seine Füße sich vorwärtsbewegten oder woher er die Kraft nahm, rücksichtslos Fremde anzurempeln und auf den ein oder anderen Fuß zu treten. Er musste die Mitte erreichen, ehe das Schwert fiel. Er entdeckte Osama, der sich suchend nach ihm umschaute, und schob sich in dessen Richtung, ohne auf empörte Aufschreie zu achten, bis er in der vordersten Reihe stand. Fuad kniete auf dem Boden, den Kopf auf dem Block. Schweiß tropfte ihm von den Haarspitzen.
    Jetzt erst bemerkte Nayir, dass Abdulrahman neben einem der Polizisten stand.
    Der Henker sagte: »Herr Nawar, dies ist die letzte Gelegenheit. Wollen Sie diesen Mann begnadigen?«
    Abdulrahman betrachtete Fuad, der wie ein kleines blindes Tier auf der Plane kniete, in Panik erstarrt. Er sah ihn lange an, während die Menge den Atem anhielt und Abdulrahmans gequältes Gesicht beobachtete.
     
    »Nein«, sagte er schließlich. »Das will ich nicht.«
    Der Henker nickte knapp, wie ein Kellner, dem man gesagt hat, er solle die Rechnung bringen. Er wandte sich zu Fuad um und wies ihn an, die Schahada zu sprechen. »Es gibt keinen Gott außer Gott, und Mohammed ist Sein Prophet.« Mittendrin brach Fuad sein Gemurmel ab und sprach nicht zu Ende.
    Mit geübter, lockerer Hand drückte der Henker die Spitze des Krummsäbels in Fuads Rücken, sodass Fuads Kopf hochkam. Dann hob er mit einer geschmeidigen, ausladenden Bewegung das Schwert über den Kopf. Nayir starrte die Klinge an, qasama wirbelte ihm wie verrückt durch den
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