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Totenstimmung

Totenstimmung

Titel: Totenstimmung
Autoren: Arnold Kuesters
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Jahrhundert, Leisten, Spindeln und anderem Zierrat fast ganz verschwand.
    Hendrik Jennes war nirgends zu sehen.
    Aus der Tiefe des Geschäfts drang klassische Musik in den staubigen Verkaufsraum.
    Frank und Ecki umrundeten die Theke und folgten der Musik. Sie zwängten sich an unaufgearbeiteten Haus- und Zimmertüren vorbei, die an die Flurwand gelehnt standen, passierten aufeinandergestapelte Schrankkoffer und näherten sich langsam Jennes’ Werkstatt.
    »Warum so zögerlich, meine Herren?« Jennes stand mit dem Rücken zu ihnen an einer hölzernen Werkbank. »Ich habe Sie längst gesehen.« Ohne sich umzudrehen, deutete er mit der Hand, die einen Schraubenzieher hielt, auf einen kleinen Bildschirm, der auf einem Stuhl neben der Werkbank stand. Zu sehen war der Eingangsbereich des Ladens. »Und sagen Sie Ihren Kollegen, dass Sie jederzeit bei mir einen Kaffee bekommen. Was soll überhaupt das Getue? Wollen Sie mir zeigen, dass Sie mich beobachten? Soll ich ›nervös‹ werden? Sie machen sich mit dieser Art der Überwachung nur lächerlich. Sie werden nicht zum Ziel kommen, denn es gibt kein Ziel.«
    »Wir haben noch einige Fragen an Sie.« Frank überging Jennes’ Sarkasmus und musterte mit einem schnellen Blick die Werkstatt. An der rechten Seite gab es eine zweiflügelige Tür, die geschlossen war. Jennes hatte sich den möglichen Fluchtweg selbst zugebaut, denn vor der Tür stand eine frisch restaurierte Kommode aus edlem Kirschholz.
    Hendrik Jennes drehte sich um und bemerkte Franks Blick. »Sie hätten das gute Stück vor der Restaurierung sehen sollen. Ich hätte ursprünglich keinen Pfifferling mehr für sie gegeben, zu viel Wurmfraß, zu lange in einer feuchten Scheune gestanden, die Füße fast verfault, eine zerschundene Platte. Aber es hat sich gelohnt. Die Schlossbüchsen sind aus Bein und wieder original, die Führungen der Schubladen sind erneuert. Die Kommode ist lange als Werkzeugkasten oder als Abstellfläche für Farbtöpfe benutzt worden. Aber nun ist sie wieder ein Schmuckstück mit Anspruch auf einen würdigen Platz.«
    »Wir sind nicht gekommen, um mit Ihnen über die Restaurierung von Kirschholzkommoden zu philosophieren.« Frank ließ Jennes nicht aus den Augen.
    Jennes legte den Schraubenzieher neben sich auf die Werkbank. »Schade. Alte Möbel haben das Recht auf eine fachgerechte Behandlung. Sie sind Teil unserer Kultur und unserer Geschichte.«
    »Bitte«, Ecki deutete auf das alte Radio mit der groben Stoffbespannung, das neben dem Bildschirm stand, »können Sie das Radio ausschalten?«
    »Sie mögen keine Klassik? WDR 3. Ach ja, ich vergaß, Sie lieben ja WDR 4.« Jennes schaltete das Radio aus.
    Ecki war verblüfft. »Woher wissen Sie das?«
    »Hatten Sie das nicht selbst erwähnt?« Jennes schmunzelte überlegen.
    Ecki runzelte die Stirn. Das konnte nicht sein.
    »Jetzt fällt es mir ein: Es gab mal einen Artikel über Sie in der Westdeutschen Zeitung .«
    Ecki erinnerte sich: Claudia Kook hatte ihn geschrieben.
    Hendrik Jennes machte eine ausholende Handbewegung. »Ich hätte Ihnen gerne einen Stuhl angeboten. Aber Sie sehen ja, sie sind in einem bedauernswerten Zustand. Und ich bin sicher, dass Sie nicht lange bleiben werden.«
    Frank überhörte den Rauswurf. Er dachte an das Gespräch mit Viola und ihre Ratschläge zur Strategie. »Warum sind Sie eigentlich Möbelhändler geworden?«
    Hendrik Jennes hob erstaunt die Augenbrauen. »Hatte ich Ihnen das nicht schon gesagt? Weil ich die Geschichten der Möbelstücke mag. Sie sind lohnenswerter als das, was uns heute umtreibt. Unsere Geschichte gibt uns unsere Identität. Außerdem sind viele Stücke perfekt gearbeitet. Und nur das Perfekte, Starke hat Bestand über den Augenblick hinaus. Das alleine zählt. Das gilt übrigens auch für die klassische Musik. Die Perfektion und Harmonie in den Kompositionen der Haydns, Chopins, Bachs und Beethovens sind das Einzige, für das es sich zu leben lohnt.«
    »Und alles Unwerte gehört ausgemerzt? Wie das Ungeziefer in Ihren Möbeln.« Frank war gespannt auf Jennes’ Antwort.
    »Ja ...«, Jennes zögerte. »Wenn Sie das auf das Kunsthandwerk oder die Musik beziehen, haben Sie recht.«
    »Und wenn ich es auf unsere Zivilisation beziehe?«
    Jennes’ Blick verfinsterte sich, er sagte aber nichts.
    »Es geht Ihnen allein um Ästhetik?«
    »Was denken Sie, Herr Borsch? Ihre Freundin hat übrigens verstanden, was uns die Vergangenheit zu erzählen hat. Sie hat Sinn für die Kraft der
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