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Totenstadt

Totenstadt

Titel: Totenstadt
Autoren: Brian Hodge
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Männer gingen an Verlusten zugrunde. Er war sehr stolz darauf, dass er sich als das Gegenteil erwiesen hatte.
    Mullavey ging durch die große Halle; er hatte noch zehn Minuten bis zum Eintreffen der Stretchlimousine. Seit einiger Zeit fuhr er selbst, da er in zwei Monaten schon den zweiten Chauffeur verloren hatte, aber glücklicherweise würde ihn die Direktorenallianz in großem Stil vorfahren sehen. Auf dem Rücksitz wartete eine passende Begleiterin für diesen Abend – dafür hatte er bereits im Vorfeld gesorgt. Sie würde wissen, wann sie zu lächeln, was sie zu sagen und, noch viel wichtiger, wann sie zu schweigen hatte.
    Professionelle Damen aus der Zeit von Nathans Herrschaft in dieser Stadt waren knapp geworden, aber dies war eine, auf die er sich verlassen konnte. Und das war alles, was er brauchte. Er musste schließlich den Schein wahren.
    Nathan …
    Wie seine Ehe war auch die Beziehung zu seinem Bruder den Bach runtergegangen. Er hatte seit Wochen nichts von ihm gehört, wobei keine Neuigkeiten in seinen Augen gute Neuigkeiten waren und das wohl bedeutete, dass Nathan in Sicherheit und sehr weit weg war. Aals Rolle als Mittelsmann war in dieser Halle zu Ende gegangen. Dass Kathleen nichts von ihrem Ehemann gehört hatte, verwunderte ihn allerdings, aber vielleicht hatte sich Nathan auch gezwungen gesehen, die Beziehung neu zu überdenken, und dabei festgestellt, dass er einiges darin vermisste.
    Aber wen interessierte das am Ende schon?
    Mit der Zeit würde es zweifellos so aussehen, dass Nathan nichts weiter als eine imaginäre Figur gewesen sei, zumindest wenn das Gegenteil nicht bewiesen werden konnte, zuweilen ein Freund, meist aber ein Gegner von höchst zweifelhafter Herkunft und ein lebenslanger Konkurrent. Möglicherweise hatte das Spiel vor mehr als drei Wochen sein Ende gefunden, und wer war nun als Letzter übrig?
    Er konnte in den Spiegel sehen – was er in letzter Zeit häufig tat – und daran glauben, dass Nathan vielleicht wirklich nicht mehr am Leben war. Dass er bei seiner Niederlage durch die Hand eines anderen Rivalen aufgehört hatte, zu existieren, während der beste und stärkste Teil von ihm nach Hause zurückgekehrt war, um in dem Rivalen aufzugehen, den er nie leugnen konnte.
    Andrew Jackson Mullavey blickte in den Spiegel – gab es nicht überall Beweise für diese Theorie, in seinem Gesicht, seinem Körper? Der dünnere Bauch, das spitzere Kinn, sogar der entschlossenere Blick. Mehr Beweise brauchte er nicht, sie waren in einem unbeugsamen Mann vereinigt worden.
    Er war in der Tat der Hüter seines Bruders.
     
    Aal schätzte, dass er schon bald vergessen haben würde, wie die Sonne aussah. Diese Welt aus Ziegelstein und Mörtel, Stein und Wasser, Fackel und Kerze; er hatte sie nicht erbaut, aber ihr zumindest eine Bestimmung gegeben. Und wie würde ihn Nathan jetzt wohl sehen? Er versteckte sich schon seit Wochen hier unten, wo das Sonnenlicht niemals hinkam, er war wie eine weiße Kreatur, die in einer Höhle mutierte; das Letzte, was er verlieren würde, wären seine Augen.
    Aber er war guter Dinge, sein Rückzug glich dem eines heiligen Mannes, der nach Erleuchtung sucht. Seine Diät beschränkte sich auf Rohkost, von der er jeden Tag etwa zwei Hände voll aß. Er rief die Loa in die Seelentöpfe und verbrachte Stunden am Stück in ihrer Gesellschaft, besänftigte sie mit einem dreiwöchigen Gebet für das, was er vollbringen wollte.
    Und dann endlich, die letzte Nacht.
    Aal hatte einen Kalender an die Wand des Humfos gehängt, und er schnippte mit einem Fingernagel gegen das Datum. Der dreizehnte. Freitag. Der Tag, den die Hexenmeister wegen der Empfänglichkeit der Götter bevorzugten. Zufall? Er zog es vor, nicht daran zu glauben.
    »Andrews glorreicher Abend«, sagte Aal. »Es tut mir leid, dass du das nicht miterleben kannst.« Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Er wird dich gewiss schmerzlich vermissen.«
    »Blödsinn.« Nathans Stimme klang wie ein Husten. »Ich wäre nicht gegangen, und das weißt du auch.«
    »Das hatte ich wohl vergessen.« Aal sah ihn an, wie er an der Ziegelsteinmauer lehnte, die ihm als Anker diente, da seine Reichweite durch Fesseln und Ketten eingeschränkt wurde. »Dir wurde ein großes Geschenk gewährt, als du als Zwilling geboren wurdest. Und du hast es verschleudert. Das habt ihr beide. Es ist euch gelungen, eine kleine Gruppe Haitianer in Furcht zu versetzen, damit ihr euch für einige Zeit wie frühere
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