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Totenruhe

Titel: Totenruhe
Autoren: Jan Burke
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prasselten, noch nahm er sein eigenes Spiegelbild wahr, das Spiegelbild eines Mannes, der ein allzu vertrautes Elend erneut durchlebt.
    Seine Hände, deren Knöchel von Narben überzogen waren, hätten einen oberflächlichen Beobachter zu der Annahme verleiten können, dass er sich seinen Weg in die Welt mit den Fäusten freigekämpft hatte. Doch ein genauerer Blick auf seine Rechte, die offene Hand, ließ schwarze Tintenflecken erkennen, die die sonst sauberen langen Finger verunstalteten.
    »O’Connor?«
    Es war nicht mehr als ein unsicheres Flüstern, doch die Tagträume des Jüngeren brachen auf der Stelle ab, und er trat an das Bett des Mannes, der ihn beim Namen gerufen hatte.
    »Ich bin da, Corrigan«, versicherte er rasch.

    »Ich hätt’s wissen müssen«, murmelte Corrigan und wandte seinem Besucher das rechte - nicht bandagierte - Auge zu. Langsam sagte er durch die genähten, geschwollenen Lippen: »Kann der Teufel nicht warten, bis ich tot bin, ehe er seine Lakaien schickt?«
    »Es ist noch schlimmer, als du denkst, Jack Corrigan. Der Scheißkerl hat mich allein hierher geschickt, weil er und die Jungs da unten alle Hände voll damit zu tun haben, für die nächste Zeit Brennholz nachzulegen. Er behauptet, er hätte noch nie ein so heißes Feuer schüren müssen wie das, das sie für dich brauchen werden.«
    »Lassen wir ihn lieber warten. Ich fahre zu niemandem in seine kalte Hölle.«
    »Einverstanden«, sagte O’Connor. Er sah zu, wie Corrigan seine Umgebung musterte. »Du bist im St. Mary’s.«
    »Wie viel Uhr ist es?«
    »Neun Uhr. Sonntagabend.«
    »Sonntagabend …«, wiederholte Corrigan verwirrt.
    »Du hast die Ruhe gebraucht. Und du brauchst noch mehr. Mach dir keine Sorgen, schlaf einfach. Ich bleibe hier.«
    Corrigan konnte der Versuchung kaum widerstehen und war schon fast wieder am Wegdämmern, doch als wäre ihm plötzlich etwas Beunruhigendes eingefallen, blickte er zu O’Connor auf und sagte: »Das Auto …«
    O’Connor runzelte die Stirn. Jack hatte seit zwanzig Jahren kein Auto mehr gesteuert - nicht seit dem Unfall, der seinen Knöchel dauerhaft beschädigt und so viele zusätzliche Querelen verursacht hatte. O’Connor kam zu dem Schluss, dass Corrigan nach wie vor benebelt war, verwirrt, wie es jeder gewesen wäre, der derart brutal zusammengeschlagen worden war. »Zerbrich dir jetzt darüber nicht den Kopf, Jack«, sagte er. »Es wird alles wieder gut.«
    Davon schien Corrigan nicht ganz überzeugt zu sein, doch er verlor den Kampf gegen die Schläfrigkeit.

    O’Connor verspürte ein Gefühl der Erleichterung, das ihn von den Schultern bis zu den Schuhen durchlief, und er blickte sich im Raum um, als sähe er ihn zum ersten Mal. Bis zu diesem Moment hatte er nichts anderes wahrgenommen als seinen verletzten und verbundenen Freund, seine eigenen Gefühle von Hilflosigkeit und Wut und die lange zurückreichenden Erinnerungen an das einzige andere Mal, als er Jack in einem Krankenbett hatte liegen sehen. Doch nun war Corrigan aufgewacht, hatte gesprochen und sogar ein bisschen gescherzt. Zwar gab es immer noch Grund genug, sich Sorgen zu machen, doch O’Connor entspannte sich zumindest so weit, dass er sich seine eigene Müdigkeit eingestand.
    O’Connor hatte den Anruf um fünf Uhr morgens bekommen, nicht lange nachdem Jack am Rand eines Sumpfes entdeckt worden war, bis auf die Haut durchnässt von Brackwasser. Irgendjemand im Krankenhaus hatte O’Connors Visitenkarte in Corrigans aufgeweichter Brieftasche gefunden. O’Connor hatte darauf bestanden, dass Jack die Visitenkarte bei sich trug, da er an die Nächte dachte, in denen Jack sein Taxigeld für Alkohol hinauswarf. Im Notfall verständigen Sie bitte …, hatte er auf die Rückseite geschrieben und seine Privatnummer hinzugefügt. Man hatte ihn mehr als einmal angerufen. Alles andere, was das Krankenhauspersonal in der Brieftasche gefunden hatte, war nicht mehr lesbar gewesen, aber weil O’Connor in den letzten fünf Jahren dreimal umgezogen war, hatte er seine Telefonnummer mit Bleistift auf die Visitenkarte geschrieben. Bleistift verlief nicht.
    Vierzig Dollar hatten das Moorbad überlebt, und so war sich O’Connor ziemlich sicher, dass das Motiv für die Schläge kein Raubüberfall gewesen war. Weiß der Himmel, was Jack passiert war und warum, doch O’Connor vermutete, dass die Sache irgendetwas mit einer Frau zu tun hatte. Und das konnte warten.
    Ein uniformierter Polizist war gekommen, um so viel wie möglich
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