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Totenreigen

Totenreigen

Titel: Totenreigen
Autoren: Dietmar Lykk
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Pagodenzelten vorbei. Der
warme Fahrtwind ließ Lüthje endlich frei durchatmen, nach den Stunden in den
Büroräumen, in denen die Luft trotz der geöffneten Fenster zum Schneiden war.
    »Ich sehe, es gefällt Ihnen«, sagte Ursula Drübbisch.
    »Oh ja!«, sagte Lüthje und hielt sein Gesicht in den Fahrtwind.
»Erzählen Sie. Ich bin ganz Ohr.«
    »Als Sie mich anriefen und sagten, dass Sie den Mörder gefunden
haben, begriff ich langsam, dass ich jetzt darüber reden kann. Von einer Last,
die ich seit Jahrzehnten mit mir herumtrage. Ich habe Ihnen gestern nicht die
Wahrheit über Rainer Stolze gesagt.«
    Lüthje nickte. Sie sah es nicht, weil sie abwechselnd auf ihre Hände
und zum Ostufer hinübersah, so als ob sie auf die nächste Anlegestelle wartete.
    »Er war meine erste große Liebe, damals, als wir beide Lehrer an der
Volksschule Laboe waren. Gleich an meinem ersten Tag an der Schule. Wir wollten
heiraten. Er hatte schon eine Wohnung für uns gefunden, am Dellenberg unten,
nur fünf Minuten von der Schule. Aber ich dumme Kuh hatte nichts Besseres zu
tun, als mich in den nächsten Mann zu verlieben. Den jungen Regierungsrat
Hermann Drübbisch, der sich gerade in Laboe ein Haus und ein Segelboot gekauft
hatte. Er heiratete mich. Er wusste nichts von Rainer. Ich quittierte den
Schuldienst. Hermann schenkte mir ein Cabriolet. Dann stand Rainer auf
irgendeiner Party wieder vor mir, und es fing wieder an. Wir verabredeten ein
Zeichen, dass ich ihm unauffällig geben konnte, ohne das Telefon zu benutzen,
wenn Hermann am nächsten Tag auf Dienstreise gehen würde. Ich hängte das Kleid
an die Hauswand, so als ob es dort trocknen sollte. Er meldete sich dann
rechtzeitig in der Schule krank, und wir hatten Zeit füreinander. Rainer Stolze
wohnte damals oben am Hexenstieg. Von dort konnte er es gut sehen. Ich trug es,
als wir uns kennenlernten. Die Bäume waren damals noch nicht so hoch. Dann lud
Hermann Rainer immer öfter ein. Rainer fing an zu trinken. Hermann machte es
ihm nach. Sie waren plötzlich befreundet. Ich habe das nicht verstanden. Und
mich habe ich auch nicht verstanden. Denn die Beziehung zwischen mir und Rainer
bestand noch. Sie haben oft zusammen getrunken, die beiden Freunde. Eines
Abends, als ich nicht da war, muss es zum Krach gekommen sein. Rainer hat ihn
getötet. Erst eine Ewigkeit später, als die Polizei einen Täter gefunden hatte,
habe ich mich von Rainer getrennt.«
    Sie hielt inne und wandte sich zu Lüthje.
    »Diese Fragen, die Sie mir bei unserem Spaziergang auf der Kiellinie
gestellt haben … Sie hatten so eine Ahnung, dass Rainer der Täter war, nicht
wahr?«
    »Ahnung oder Gefühl«, sagte Lüthje. »Aber Sie wissen es ja auch
nicht, Sie haben auch nur so ein Gefühl. Oder hat Rainer es Ihnen irgendwann
gestanden?«
    »Lassen Sie mich erst weitererzählen«, sagte sie. »Als das Haus vor
ein paar Monaten leer geräumt werden musste, weil ich es verkaufen wollte, habe
ich das Kleid auf dem Boden wiedergefunden. In einer Plastiktüte, ein paar
Mottenkugeln hatte ich auch dazugelegt. Ich kann mich nicht mehr daran
erinnern. Ich habe es sofort gewaschen, wie damals im Waschbecken. Wie damals
mit Seife. Und habe es wieder aus dem Badezimmerfenster an die Hauswand
gehängt. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil
damit alles angefangen hat, was jetzt mit dem Tod meines Sohnes endete. Es war
also gleichzeitig der Abschied vom Haus.«
    Die Fähre fuhr etwas hart an eine Anlegestelle, es gab einen Ruck,
Ursula Drübbisch schreckte auf und griff nach Lüthjes Arm.
    »Friedrichsort«, sagte Lüthje.
    Sie nahm die Hand wieder von seinem Arm.
    »War es nicht auch wie ein Abschiedsgruß für Rainer, obwohl Sie doch
nicht glauben konnten, dass er es je sehen würde?«, fragte Lüthje.
    »Ja, Sie haben recht. Vielleicht war das der wichtigste Grund«,
antwortete sie.
    »Vielleicht hat Ihr Unterbewusstsein sich dabei noch etwas mehr
gedacht«, sagte Lüthje. »Es wollte Rainer ins Haus locken. Sie konnten nicht
wissen, dass er sich verhielt wie viele Täter, die einen Menschen getötet haben
und nie gefasst werden. In ihnen erwacht irgendwann das Bedürfnis, den Ort der
Tat wieder aufzusuchen.« Wie ein Hund, der immer zum Erbrochenen zurückkehrt,
dachte Lüthje. »So wird es auch bei Rainer Stolze gewesen sein. Irgendwann hat
er angefangen, nach Laboe zu fahren und um das Haus zu streichen. Das Bedürfnis
wird stärker, es wird zur Sucht. Vielleicht mal schnell über den
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