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Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
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der Michelle Doktor Ruth Galloway kennenlernen sollte. Dem Zustand ihrer Haare nach zu urteilen wird sie wohl kaum Stammkundin in Michelles Salon werden.
    Trotzdem interessiert sie ihn. Wie alle resoluten Menschen – er selbst sagt lieber ‹resolut› als ‹rechthaberisch› – mag er Leute, die ihm etwas entgegenzusetzen haben. Bei der Arbeit passiert ihm das viel zu selten. Entweder hassen ihn die Leute, oder sie versuchen, sich anzubiedern. Ruth macht keins von beidem. Sie begegnet ihm einfach ganz gelassen auf Augenhöhe. Er kann sich nicht erinnern, jemals einer so selbstsicheren Person wie Ruth Galloway begegnet zu sein. Vor allem keiner Frau. Selbst ihre Kleidung, diese weiten Klamotten und die Turnschuhe, scheinen auszudrücken, dass es ihr egal ist, was andere von ihr denken. Sie wird sich ganz sicher nicht in kurze Röckchen und Stöckelschuhe werfen, nur um den Kerlen zu gefallen. Wobei ja nichts Falsches daran ist, den Kerlen gefallen zu wollen, sinniert Nelson, während er seine Bürotür mit dem Fuß auftritt. Aber trotzdem findet er es interessant und irgendwieauch erfrischend, einer Frau zu begegnen, der es offenbar egal ist, ob sie attraktiv wirkt.
    Und was sie ihm da über Rituale erzählt hat, das war auch interessant. Stirnrunzelnd setzt sich Nelson an den Schreibtisch. Dieses ganze Gerede über Rituale und Opferhandlungen und solchen Mist hat ihn wieder an alles erinnert: die Tage und Nächte intensiver Suche, die qualvollen Unterredungen mit den Eltern, der langsame, unerträgliche Übergang von Hoffnung zu Verzweiflung, die überfüllte Einsatzzentrale, die Teams, die aus sechs verschiedenen Polizeistaffeln hinzugezogen wurden, nur mit dem einen Ziel, ein kleines Mädchen zu finden. Und alles vergebens.
    Nelson seufzt. Obwohl er weiß, dass es sinnlos ist, wird er heute, bevor er Feierabend macht, noch einmal die kompletten Lucy-Downey-Akten lesen.
     
    Es ist bereits stockdunkel, als Ruth sich auf den Heimweg macht und ihren Wagen vorsichtig die New Road entlangsteuert. Die Straße hat zu beiden Seiten Gräben, und eine falsche Lenkradbewegung kann schon genügen, einen auf höchst peinliche Weise in den Abgrund zu befördern. Ruth ist das einmal passiert, und sie legt keinen Wert darauf, diese Erfahrung ein zweites Mal zu machen. Die Scheinwerfer erhellen den Asphaltstreifen vor ihr: Die Straße liegt höher als das Land ringsum, man hat den Eindruck, durchs Nichts zu fahren. Es gibt nur noch die Straße vor ihr und den Himmel über ihrem Kopf.
Wo die Erde auf den Himmel trifft.
Ruth fröstelt und schaltet das Autoradio ein. Die beruhigende und leicht blasierte Stimme des Kulturradio-Sprechers ertönt. «Kommen wir nun zu unserem Nachrichtenquiz   …»
    Sie parkt vor ihrem windschiefen blauen Zaun und holt den Rucksack aus dem Kofferraum. Im Haus der Wochenendurlauberist alles dunkel, doch beim Vogelwart brennt Licht im oberen Stock. Vermutlich geht er immer früh schlafen, um rechtzeitig auf den Beinen zu sein, wenn die Vögel ihr Morgenlied anstimmen. Flint sitzt jämmerlich maunzend vor der Haustür und bettelt um Einlass, obwohl es eine Katzenklappe gibt und er wahrscheinlich ohnehin den ganzen Tag drinnen gedöst hat. Ruth fällt auf, dass sie Sparky heute noch nicht gesehen hat, und als sie die Haustür aufschließt, verspürt sie einen Anflug von Sorge. Doch die zierliche, schwarze Katze mit der weißen Schnauze liegt friedlich schlafend auf dem Sofa. Ruth ruft ihren Namen, doch sie bleibt liegen, fährt nur einmal kurz die Krallen aus und schließt dann wieder die Augen. Sparky ist von Natur aus reserviert, im Gegensatz zu Flint, der Ruth nun verzückt um die Beine streicht.
    «Hör schon auf, du dummer Kater.»
    Sie stellt den Rucksack auf den Tisch und füttert die Katzen. Das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkt. Ruth hat das dumpfe Gefühl, dass es keine angenehmen Nachrichten sein werden, was sich auch umgehend bestätigt, als sie den Abspielknopf drückt. Vom Band ertönt die vorwurfsvolle, leicht gehetzte Stimme ihrer Mutter.
    «…   und ob du jetzt an Weihnachten kommst? Du könntest wirklich etwas mehr Rücksicht auf uns nehmen, Ruth. Simon hat schon vor Wochen Bescheid gesagt. Wie auch immer, ich gehe davon aus, dass du kommst. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass du Weihnachten ganz allein in diesem schrecklichen   …»
    Seufzend drückt Ruth auf «Löschen». Ihre Mutter bringt es tatsächlich fertig, all die vielen Jahre gereizter Stimmung
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