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Totenpfad

Totenpfad

Titel: Totenpfad
Autoren: Elly Griffiths , Tanja Handels
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und subtiler Vorwürfe in ein paar kurze Sätze zu packen. Der Rüffel für ihr rücksichtsloses Verhalten, der Vergleich mit dem ach so perfekten Simon und die Andeutung, dass Ruth die Feiertage mit einem Fertiggerichtvon Marks & Spencer vor dem Fernseher verbringen wird, wenn sie nicht zu ihren Eltern fährt. Während sie sich wütend ein Glas Wein einschenkt – die Stimme ihrer Mutter im Ohr: «Wie viel trinkst du denn normalerweise, Ruth? Dein Vater und ich sind in Sorge, du könntest abhängig werden   …»   –, formuliert Ruth eine Erwiderung. Natürlich würde sie ihr das niemals ins Gesicht sagen, aber trotzdem tut es gut, durch die Küche zu stapfen und ihre Mutter mit unbestechlich logischen Argumenten wieder auf den Teppich zu bringen.
    «Dass ich dir wegen Weihnachten noch nicht Bescheid gesagt habe, liegt daran, dass ich schlicht und einfach keine Lust habe, nach Hause zu fahren und mir deine Litaneien über das Jesuskind und die wahre Bedeutung des Weihnachtsfests anzuhören. Simon hat dir nur schon Bescheid gesagt, weil er ein Weichei ist und aller Welt in den Arsch kriecht. Und falls ich nicht kommen sollte, dann nur, weil ich bei Freunden eingeladen bin oder auf irgendeine tropische Insel fliege, aber ganz sicher nicht, weil ich lieber zu Hause hocke und mir Weihnachtsspielfilme anschaue. Mein Haus ist übrigens keineswegs furchtbar, sondern hundertmal besser als eure Doppelhaushälfte in Eltham mit dieser Kieferntäfelung und den scheußlichen Nippes-Figürchen. Und außerdem hat Peter nicht mit mir Schluss gemacht, sondern ich mit ihm.»
    Den letzten Satz fügt sie hinzu, weil sie aus Erfahrung weiß, dass ihre Mutter irgendwann an Weihnachten unweigerlich auf Peter zu sprechen kommen wird. «Peter hat uns eine Karte geschickt   … das ist ja so schade   … Hörst du noch manchmal von ihm?   … Weißt du, dass er inzwischen verheiratet ist?» Ruths Mutter wird vermutlich nie begreifen, dass ihre Tochter aus freien Stücken die Beziehung mit einem attraktiven, absolut passablen Mann beendet hat. Bei ihren Freunden und Kollegen hat Ruth ähnlicheReaktionen beobachtet, als sie ihnen erzählte, dass Peter und sie nicht mehr zusammen seien. «Ach, das tut mir aber leid   … Hat er eine andere gefunden?   … Mach dir keine Sorgen, der kommt schon wieder   …» Geduldig hat sie ihnen auseinandergesetzt, dass sie selbst sich vor inzwischen fünf Jahren von ihm getrennt hat, aus dem schlichten und doch gar nicht einfachen Grund, dass sie ihn nicht mehr liebte. «Ach, weißt du», antworteten die Leute, als hätten sie sie gar nicht gehört, «die Neue wird ihm sicher bald langweilig. Bis dahin tust du dir einfach was Gutes. Gönn dir doch mal eine Massage, und du könntest vielleicht auch ein paar Kilos   …»
    Um sich aufzuheitern, setzt Ruth einen Topf Wasser für eine schöne, kalorienreiche Pasta auf und ruft Erik an. Erik Anderssen, dessen Spitzname konsequenterweise «Erik der Wikinger» lautet, war ihr großer Mentor an der Universität und hat sie zur forensischen Archäologie gebracht. Er hat ihr Leben ungemein beeinflusst und ist inzwischen ein enger Freund. Lächelnd ruft sie sich sein Bild vor Augen: weißblondes Haar, zum Pferdeschwanz gebunden, verwaschene Jeans, ausgefranster Pulli. Sie ist sich sicher, dass ihr heutiger Fund seine Begeisterung wecken wird.
    Erik der Wikinger ist inzwischen nach Norwegen zurückgekehrt, wie sich das gehört. Vergangenen Sommer hat Ruth ihn dort besucht, in seinem Holzhaus am See: morgendliche Bäder im eiskalten Wasser, gefolgt von glühend heißen Saunagängen, Magdas wundersame Kochkünste, Gespräche mit Erik über Maya-Kulturen unter dem nächtlichen Sternenhimmel. Magda, Eriks Frau, eine sinnliche blondhaarige Göttin, die das Kunststück fertigbringt, dass man sich angesichts ihrer Schönheit selbst nicht schlechter, sondern allen Ernstes besser fühlt, ist ebenfalls eine gute Freundin geworden. Sie würde das Gespräch niemals bewusst auf Peter bringen, obwohl sie in jenem Sommerdabei war, als Ruth und Peter sich ineinander verliebten. Mit ihrem sanften Wohlwollen und ihrem Taktgefühl hatte sie sie in gewisser Weise sogar zusammengebracht.
    Doch Erik ist nicht zu Hause. Ruth hinterlässt ihm eine Nachricht, dann gibt sie ihrer Unruhe nach und holt das verbogene Metallstück aus dem Rucksack, um es sich eingehend anzusehen. Es schaut aus seinem sorgsam datierten und beschrifteten Gefrierbeutel zurück. Phil wollte, dass sie es im
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