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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte
Autoren: Ann Cleeves
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kannte, verstand man auch, warum. Sein Vater saß eigentlich ständig im Knast, und seine Mutter hat sich auch nicht viel um den Jungen gekümmert.
    Ich hätte mir Thomas ja nicht als Freund für Luke ausgesucht, aber er war im Grunde kein schlechter Kerl. Und es schien ihm bei uns zu gefallen. Irgendwann wohnte er praktisch hier. Aber er war keine große Belastung. Die zwei saßen eigentlich immer oben in Lukes Zimmer, schauten Videos oder machten Computerspiele, und in der Zeit klauten sie zumindest nicht oder nahmen Drogen, wie ihre anderen Kumpels. Und sie haben sich richtig gut verstanden. Manchmal hörte ich sie über irgendeinen blöden Witz lachen, und dann war ich einfach froh, dass Luke endlich einen Freund hat.
    Dann ist Thomas ums Leben gekommen. Er ist ertrunken. Ein paar von den Jungs haben in North Shields am Kai rumgeblödelt, und Thomas ist ins Wasser gefallen. Er konnte nicht schwimmen. Luke war auch dabei, er istsogar reingesprungen, um Thomas zu retten. Aber es war schon zu spät.»
    Julie hielt inne. Draußen fuhr ein Traktor mit einem heuballenbeladenen Anhänger vorbei. «Luke wollte nicht darüber reden. Er hat sich einfach stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen. Ich dachte, er braucht vielleicht nur Zeit, um die Geschichte zu verarbeiten. Zeit zum Trauern, wissen Sie? Er ging nicht mehr zur Schule, aber er war ja schon fünfzehn, und einen richtigen Abschluss würde er sowieso nicht machen, deshalb habe ich ihn irgendwann einfach gelassen. Ich habe mit meiner Chefin im Altersheim gesprochen, und sie meinte, sobald er sechzehn ist, kann er vielleicht dort arbeiten, in der Küche aushelfen. Ein paarmal hat er mich zur Arbeit begleitet, und die alten Leutchen mochten ihn auf Anhieb. Ich hätte natürlich merken müssen, dass er Hilfe braucht. Es war einfach nicht normal, wie er sich verhielt. Aber unser Luke war noch nie normal. Wie hätte ich da etwas ahnen können?
    Irgendwann hat er sich nicht mehr gewaschen, nichts mehr gegessen. Er war die ganze Nacht wach. Manchmal hörte ich seine Stimme, als würde er mit jemandem reden, der gar nicht da ist. Da habe ich dann doch den Arzt gerufen, und der hat ihn ins St.   George’s überwiesen, Sie wissen schon, die psychiatrische Klinik. Es hieß, er hätte eine schwere Depression. Posttraumatische Belastungsstörungen. Ich fand es schrecklich, ihn dort zu besuchen, aber es war schon eine Erleichterung, ihn nicht mehr zu Hause zu haben. Ich hatte natürlich ein furchtbar schlechtes Gewissen, das zu denken, aber so war es einfach.»
    «Wann ist er wieder nach Hause gekommen?», fragte die dicke Frau. Ihre erste Frage überhaupt.
    «Vor drei Wochen. Es schien ihm besserzugehen. Sehr viel besser. Er war natürlich immer noch traurig wegenThomas. Manchmal fing er einfach an zu heulen, wenn er an ihn dachte. Und er war weiter ambulant in Behandlung. Aber er wirkte nicht verrückt, flippte nicht mehr aus. Gestern, das war der erste Abend, an dem ich ausgegangen bin, seit Monaten. Ich habe das wirklich gebraucht, aber wenn ich nicht sicher gewesen wäre, dass alles in Ordnung ist mit ihm, wäre ich doch niemals weggegangen. Ich hätte nie damit gerechnet, dass er sich etwas antut.»
    Die Frau beugte sich vor und ergriff Julies Hand, umschloss sie mit ihrer großen Pranke.
    «Es war nicht Ihre Schuld», sagte sie. «Luke hat sich nicht umgebracht.» Sie sah Julie ins Gesicht, um sicher zu sein, dass sie auch zuhörte, dass sie verstand, was sie ihr sagte. «Er war schon tot, bevor er in die Badewanne gelegt wurde. Er wurde ermordet.»

KAPITEL VIER
    Sie saßen beim Frühstück am Küchentisch. Draußen schien bereits die Sonne, das gelbe Geschirr auf der Anrichte spiegelte die Strahlen und warf sie zur Decke hinauf. Peter bestrich seinen Toast mit Butter und redete dabei ununterbrochen; er beklagte sich darüber, dass sein Bericht an die Seltenheitskommission, das British Birds Rarity Committee, erneut abgewiesen worden war. Felicity gab sich interessiert, ohne sich groß auf das zu konzentrieren, was er sagte. Darin hatte sie Übung. Als junger Mann hatte Peter sich zu Höherem berufen gefühlt; er hatte als einer der besten Nachwuchswissenschaftler gegolten. Jetzt jedoch, kurz vor der Rente, musste er feststellen, dass die einschlägigen naturgeschichtlichen Institutionen seineQualifikationen nicht anerkennen wollten. Felicity fand die Art, wie er mit seiner Enttäuschung umging, stillos und unsouverän: Er machte abfällige Bemerkungen über seine
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