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Totenblüte

Totenblüte

Titel: Totenblüte
Autoren: Ann Cleeves
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Hause. Das war dann etwas ganz Besonderes für ihn. Er machte einen Riesenzinnober, brachte Geschenke mit. Wir benahmen uns alle so gut wie möglich, und er ging jeden Abend mit seinen Kumpels saufen. Als er dann dauerhaft wieder hier war, konnte das natürlich nicht so weitergehen. Sie wissen ja, wie das ist im Alltag. Nasse Babyklamotten auf der Heizung, Spielzeug im ganzen Haus, schmutzige Windeln   … Manchmal hat er da einfach die Geduld verloren, vor allem mit Luke. Laura hat immer nur gekichert und ihn um den Finger gewickelt. Aber Luke war irgendwie in seiner eigenen Welt. Natürlich hat Geoff ihn nie geschlagen, aber er hat ihn angebrüllt, und das hat Luke solche Angst gemacht, man hätte denken können, er wäre wirklich verprügelt worden. Ich habe auch viel rumgebrüllt, aber bei mir wussten sie, dass ich es nicht ernst meine und dass sie am Ende doch ihren Willen kriegen. Bei Geoff war das anders. Manchmal hatte ich sogar selber Angst vor ihm.»
    Einen Moment lang schwieg sie und dachte an Geoff und seinen Jähzorn, an die gedrückte Stimmung im Haus, die auf seine Wutanfälle folgte. Aber sie konnte nicht lange still bleiben, und gleich darauf sprudelten die Worte schon wieder weiter.
    «In der Grundschule war Luke nicht weiter schwierig. Er schien sogar ganz gerne hinzugehen. Vielleicht war er einfach schon daran gewöhnt, weil der Kindergarten im selben Gebäude war. Und in der ersten Klasse hatte er auch eine ganz tolle Lehrerin, Mrs   Sullivan. Sie war wie eine Oma für die Kinder, nahm sie auf den Schoß, um ihnen Lesen beizubringen. Sie hat mir gesagt, Luke hätte Probleme – nichts Schlimmes, meinte sie, aber es wäre doch besser, ihn mal untersuchen zu lassen. Sie fand, er sollte zum Psychologen. Aber wir hatten nicht genug Geld, die Wartelisten waren zu lang oder was auch immer, jedenfalls kam es nie dazu. Geoff meinte, Luke wäre einfach nur faul. Und dann hat er uns verlassen. Er hat behauptet, wir gingen ihm auf die Nerven, würden ihn nur runterziehen. Aber ich wusste natürlich, dass er eine Affäre hat, mit einer Krankenschwester vom Royal-Victoria-Krankenhaus. Sie sind dann zusammengezogen. Inzwischen sind sie verheiratet.»
    Wieder schwieg sie einen Moment, nicht weil ihr der Redestoff ausgegangen wäre, sondern weil sie ein paarmal tief durchatmen musste. Sie glaubte, dass Geoff immer schon geahnt hatte, mit Luke könne etwas nicht stimmen. Wie oft hatte er ihn beim Spielen misstrauisch gemustert. Und trotzdem hatte er es sich nie eingestehen wollen.
    Es war inzwischen halb neun, und sie saßen immer noch im Haus der Nachbarin, in Sals Wohnzimmer. Draußen ging gerade der Postbote vorbei und beäugte neugierig den Polizisten, der vor Julies Haustür stand. Am anderenEnde der Straße brachen Kinder zur Schule auf. Kichernd alberten sie miteinander herum.
    Die dicke Polizistin beugte sich vor – nicht, um Julie dazu zu bewegen, weiterzureden, sondern vielmehr, um ihr zu zeigen, dass sie Geduld und alle Zeit der Welt hatte. Julie trank von ihrem Tee. Sie hatte keine Lust, der Frau zu erzählen, wie Geoff Luke gemustert hatte.
    «Das mit den Wutanfällen fing an, als er etwa sechs war. Sie kamen aus dem Nichts, er war dann gar nicht mehr zu bändigen. Meine Mutter meinte, ich bin schuld, weil ich ihn so verwöhnt habe. Damals war er zwar schon nicht mehr bei Mrs   Sullivan in der Klasse, aber sie war die Einzige an der Schule, mit der ich darüber reden konnte, und sie meinte, er wäre von sich selbst enttäuscht. Er hatte Probleme mit dem Schreiben und mit dem Lesen, und das wurde ihm dann manchmal plötzlich alles zu viel. Einmal hat er auf dem Pausenhof einen anderen Jungen geschubst, weil der ihn geärgert hatte. Der Junge ist hingefallen und hat sich am Kopf verletzt. Er musste sogar ins Krankenhaus. Sie können sich ja vorstellen, wie das für mich war, als ich nachmittags kam, um die Kinder abzuholen. Die anderen Mütter standen alle da und haben geflüstert und mit dem Finger auf mich gezeigt. Luke hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen. Er wollte den anderen Jungen unbedingt im Krankenhaus besuchen, dabei hatte der ihn ja so provoziert. Aidan hieß er. Aidan Noble. Seine Mutter hat ganz gut reagiert, aber sein Vater stand irgendwann bei uns vor der Tür, um uns die Meinung zu geigen, und hat da draußen rumgebrüllt, dass die ganze Straße mithören konnte.
    Dann hat mich der Direktor zu sich bestellt, Mr   Warrender. So ein kleiner dicker Kerl mit dünnem Haar, unter dem
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