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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht
Autoren: Marcia Muller
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stiegen, verstärkte sich
der Geruch von Zypressen und Eukalyptus; der Boden war mit Fichtennadeln
übersät, wodurch man leicht den Halt verlor. Jetzt bemerkte ich plötzlich die
Geräusche der Nacht: Ein Trippeln auf der einen Seite; Äste, die sich
aneinander rieben; das Geraschel der Vögel in ihren Nestern. Der Wind war nicht
mehr so stark wie am Strand, aber immer noch kalt. Er brachte den Geruch
brackigen Salzwassers und den frischeren Duft des nahe gelegenen offenen Meeres
mit sich. Am Fuß eines hohen Felsbrockens blieb ich stehen, wischte mir die
Nebelnässe mit der einen Hand vom Gesicht, während ich mit der anderen die
Taschenlampe in die Höhe hielt.
    Eine massive Felsmauer.
    Ross tauchte hinter mir auf. »Dies
scheint eine Sackgasse zu sein«, sagte ich.
    »Scheiße! Dann müssen wir zum Strand
zurück und den anderen versuchen.«
    Auf dem Rückweg stolperte Ross und wäre
um ein Haar kopfüber in den Abgrund gestürzt. Wir gingen an den Booten am
Strand vorbei und folgten dem Uferpfad. Kleine Wellen saugten an den Ufern der
Insel, schwappten gegen die Felsen und strömten in die Zwischenräume. Ich
leuchtete wieder nach unten, um den trügerischen Boden zu erhellen.
    Und dann sah ich sie...
    Die kleine Mia Taylor lag in einer
Felsmulde, die teilweise mit Wasser gefüllt war. Das Kind hatte eine
Fötusstellung eingenommen. Sie trug einen weißen Schlafanzug, auf den rote,
gelbe, blaue und grüne Zirkusclowns aufgedruckt waren. Ein Fuß war nackt. Der
andere steckte in einem haarigen weißen Hausschuh, dem Gegenstück zu dem, den
Ross im Ruderboot gefunden hatte.
    Hinter mir schrie Ross leise auf. Sie
wollte sich an mir vorbeischieben, aber ich hielt sie zurück. Ich schloß kurz
die Augen und machte mich auf die möglicherweise schrecklichste Entdeckung
meines Lebens gefaßt. Dann ging ich über die Felsen auf das Kind zu.
    Mia bewegte sich nicht, als ich mich
näherte. Ich kniete neben ihr nieder und berührte ihren Arm. Ihre Haut war kalt
und klamm. Eine Windbö zerzauste ihr feines, schwarzes Haar.
    Und dann hörte ich sie schnaufen — ein
schneller, zitternder Atemzug voller Kummer und Angst.
    Mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich
legte die Hand auf ihren Kopf, glättete ihr Haar und berührte ihren Nacken.
Ihre Arterie pulsierte kräftig.
    »Mia«, sagte ich, »alles ist gut. Libby
und ich sind hier.«
    »Sharon?« rief Ross.
    »Sie lebt. Gehen Sie zum Boot zurück
und holen Sie die Decken.«
    Ross’ Schritte entfernten sich eilig
über die Felsen.
    Mia begann zu wimmern. Ich bewegte sie —
vorsichtig, für den Fall, daß sie sich etwas gebrochen hatte. Sie weinte nicht
und zuckte auch nicht zusammen; als ich sie in den Armen hielt, schmiegte sie
sich eng an mich.
    »Papi«, sagte sie.
    »Mia, was ist mit deinem Papi passiert?
Und mit Davey?«
    »Sie sind weg.« Sie preßte sich so eng
an mich, daß ich Mühe hatte, sie zu verstehen. »Papi hat meine Hand
losgelassen. Ich bin hingefallen. Ich habe nach ihm gerufen, aber er hat mich
nicht gehört. Davey schrie, daß er stehenbleiben soll. Aber sie sind
weitergegangen und haben mich hiergelassen.«
    D. A. war vermutlich gar nicht
aufgefallen, daß er sie losgelassen hatte. Er war wohl zu betrunken oder zu
bekifft gewesen, um etwas zu bemerken oder sich Gedanken um sie zu machen. Zorn
stieg in mir auf, und ich drückte Mia noch enger an mich.
    Ross kehrte mit den Decken zurück. Wir
wickelten das kleine Mädchen ein. »Bringen Sie sie ins Boot. Ich suche D. A.
und Davey«, sagte ich.
    »Sie sollten besser nicht...«
    »Mein Gott, Libby, wir können sie in
diesem Zustand nicht allein lassen! Ich komme schon zurecht.«
    Wortlos hob Ross das eingewickelte Kind
in die Höhe. Ich stand auf, richtete den Strahl meiner Lampe auf den Weg und
brach auf.
     
    Nach ein paar Minuten war ich mir
ziemlich sicher, daß ich den Weg gefunden hatte, der mich zu D. A.s flachem
Felsen oben auf der Insel führen würde. Vorbei an Bäumen, zerklüfteten Felsen
und tiefen Abgründen schlängelte er sich stetig in die Höhe. Je weiter ich nach
oben kam, desto heftiger wehte der Wind; Nebel zog durch die herabhängenden
Äste. Um mich herum herrschte vollkommene Stille, aber ich wußte, daß diese
Ruhe trügerisch war; eine Gefahr lauerte in dem Nichts, das irgendwo einen
labilen Mann mit einer Waffe verbarg.
    Bald wurden meine nackten Finger von
der Kälte ganz steif; ich bewegte sie. Mein Hals war rauh, und ich schluckte,
um das unangenehme Gefühl loszuwerden. Ich hatte
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