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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe
Autoren: Gail Giles
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es keine Heinzelmännchen oder eine überarbeitete Mutter, um sich um meinen Kram zu kümmern.«
    Wir standen herum und »blickten wie Schafe drein«, wie Opa Wilson sagen würde. Ich wartete darauf, dass jemand endlich fragte: »Und wer zum Teufel bist du?«
    »Sunn, du siehst fantastisch aus. Dein Outfit ist in New York total angesagt. Du musst bloß noch die Turnschuhe gegen Mary Janes aus Lackleder tauschen und es ist perfekt.«
    Ich konnte nicht widerstehen, Dad einen Na-siehst-du-Blick zuzuwerfen. Ich wusste nicht, wer diese Nicht-Jazz war, aber ich stellte fest, dass sie mir lieber war als die echte Jazz.
    »Hör mal, ich weiß nicht, was hier vor sich geht, aber -«
    Dad wurde mitten im Satz von Mom unterbrochen. Von einer neuen Mom, die souverän und sicher klang.
    »Dan, jetzt lass Jazz erst einmal ankommen. Ich bin mir sicher, sie ist todmüde.« Mom drängte sich neben das schlanke Mädchen und strich ihm über das Haar. »Die Busfahrt von New York hierher ist lang und anstrengend. Ich wette, Jasmine möchte sich vor dem Essen gern ein wenig hinlegen.«
    »Ach, Mom, du gibst wirklich immer acht auf dein kleines Mädchen.«
    Nicht-Jazz küsste Mom auf die Wange. »Ich würde gern duschen und mich umziehen. Ich fühle mich schmutzig nach der Reise, wisst ihr.« Sie ging an Dad vorbei und schulterte die Reisetasche. »Ich brauche nicht lang. Ich habe schon gesehen - und gerochen, dass in der Küche meine sämtlichen Leibspeisen auf mich warten, und ich bin am Verhungern.« Mit ihrem Lächeln hätte sie Kobras beschwören können. »Ihr kennt mich ja, ich esse wie ein Trucker.« Zwei Stufen auf einmal nehmend, sprang sie die Treppe hinauf. »Bin gleich wieder da!«
    Wir beobachteten, wie die Fremde, ohne zu zögern, in Jazz' Zimmer verschwand.
    »Ist sie nicht wunderschön? Ich wusste, Gott würde nicht so grausam sein, mir mein Kind wegzunehmen, ohne die Gelegenheit, mich zu verabschieden.« Mom stand da, die Hände auf die Brust gelegt. Ihr Blick war noch immer auf die Treppe gerichtet.
    Sie drehte sich im Kreis, die Arme um den Körper geschlungen, und in ihren strahlenden Augen standen Tränen.
    »Meine Jasmine ist zurück. Ich werde mich nie mehr über irgendetwas beklagen.«
    Dad trat dicht neben Mom und berührte ihre Schulter so leicht, als streichelte er das Federkleid eines zarten Vogels.
    »Lily, Schatz, siehst du denn nicht -«
    Mom stieß seine Hand beiseite und schnitt ihm das Wort ab. Stimme und Miene waren unerbittlich. »Unser Mädchen ist zu Hause, wo es hingehört. Ich will nichts von deinem betrunkenen Geschwätz hören. Wenn du das Werk Gottes nicht annehmen kannst, dann verlasse dieses Haus.«
    Sie marschierte in die Küche. »Ich muss den Tisch decken und das Essen warm machen. Und die grünen Bohnen müssen noch gedünstet werden«, rief sie uns über die Schulter zu.
    Wir starrten uns an. Ich wandte den Blick als Erste ab und ließ mich wieder in den Ohrensessel fallen. Dad schlurfte zum Sofa und sank mit einem Seufzer in die Kissen. Er stützte die Ellbogen auf die Knie und rieb sich mit den Kanten der Handballen die Augen. Alle Geräusche im Haus wirkten lauter. Ich hörte das pfeifende Gurgeln von Wasser, das durch die Rohre rauschte, als die Fremde, die uns und unser Haus kannte, oben duschte. Ich hörte meine Mutter Zeilen aus Musicalliedern trällern und mit dem Besteck klappern. Ich hörte meinen Vater tief und abgehackt atmen und meinen eigenen Herzschlag.
    »Du weißt, dass sie es nicht ist, oder?« Dad hörte nicht auf, sich die Augen zu reiben. Den Kopf hielt er immer noch gesenkt.
    »Ja. Das ist nicht Jazz.«
    »Danke, ich habe mich schon gefragt, ob ich mit der Sauferei meinen Verstand endgültig ins Nirwana geschickt habe.«
    »Dad, woher weiß sie das alles?« Ich beugte mich vor, mein Ton war eindringlich: »Sie kennt uns, sie kennt das Haus, sie weiß alles Mögliche über uns. Das ist gruselig.«
    »Jep. Ich habe sie aussteigen sehen und mir blieb das Herz stehen. Es war nicht sie. Ich habe mich gefragt, wer von uns verrückt ist.«
    »Sie hat sich gefreut, mich zu sehen, und sie war nett zu mir. Das ist der Beweis, dass sie nicht Jazz ist«, erklärte ich.
    Dad sprang auf. »Deine Schwester ist tot. Kannst du nicht einmal diese Klugscheißerei lassen?«
    Ich blickte auf meine Füße. Zuzusehen, wie Mom das Mädchen ganz vereinnahmte, zuzusehen, wie diese Fremde die ganze Luft im Raum aufsaugte, das war genauso, als wäre Jazz hier.
    Als ich den Blick hob, stand Dad
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