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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus
Autoren: Øystein Wiik
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mio d’amore.« – Für immer ist mein Liebestraum verflogen . Jetzt kam der dramatische Teil der Arie für den jugendlichen Helden, in der Medina seine vokalen Muskeln anspannte. Seine Stimme dröhnte, und das dunkle Eichenholz im Saal bebte, als er dem Orchester mit seinem Fortissimo nahezu die Luft raubte.
    »E non ho amato mai tanto la vita.« – Und hab das Leben niemals so sehr geliebt . Selten hatte das Publikum einen Sänger so sehr geliebt. Der Applaus hielt fünf Minuten an. Die Leute riefen, pfiffen, weinten: »Da capo!«, »Bravo!«, »Da capo!« Tom Hartmann sah ein, dass er sich geschlagen geben musste. Ihm blieb gar keine andere Wahl, als diesem Mann in seiner Kritik acht der maximal sechs Punkte zu geben. Hartmann war noch immer getroffen und verzweifelt über Medinas Absage. Trotzdem, dieser Mann war schlicht und einfach göttlich.
    Poikonen hob, offensichtlich irritiert, den Taktstock und gab dem Orchester das Zeichen zum Weiterspielen, doch das Publikum rief unverdrossen weiter »Da capo! Da capo!«. Schließlich drehte Poikonen sich um, Wahnsinn im Blick, und schrie die Zuhörer an: »Not now, you fools!« Buh-Rufe prasselten auf Poikonen hernieder, und das Auditorium verwandelte sich von einer zurückhaltenden, von der Etikette gesteuerten Gruppe in einen nach Medinas Stimmpracht gierenden Organismus. Doch Poikonen trieb die Vorstellung gnadenlos voran.
    Ava Armstrong – sie sang die Rolle der Tosca – versuchte tapfer, die aufkommende Disharmonie zu ignorieren. Sie war zweifelsohne eine tüchtige Sängerin, konnte die Diskrepanz zu Medinas Stimmgewalt aber nicht überspielen. In den letzten Szenen vor der Hinrichtung waren sie zunehmend auseinandergedriftet.
    Die Stimmung im Saal war hoch explosiv. Das Publikum hatte den Dirigenten Jorma Poikonen zu seinem Hassobjekt auserkoren.
     

Vorhang
    Niemand achtete auf den Mann, der sich am rechten Rand des dritten Rangs an die Zwischenwand aus deutscher Eiche lehnte. Die sechs Plätze vor ihm waren leer, er hatte alle gekauft. Von hier aus hatte er eine perfekte Übersicht über den Bühnenraum. Drei Schritte zu seiner Rechten war eine Tür, die zu einer Fluchttreppe führte.
    Die Kamerafunktion seines nagelneuen Smartphones war aktiviert und über Bluetooth mit einem Zielfernrohr verbunden, das in ein Opernglas montiert worden war. Da das Opernglas mit Perlmutt und Messing verziert war, fiel bei dem Dämmerlicht im Saal niemandem auf, dass an seiner Rückseite eine Derringer mit Schalldämpfer installiert war. Während der ersten beiden Akte hatte der Mann das Opernglas eifrig benutzt, damit die in der Nähe Sitzenden keinen Verdacht schöpften. Jetzt drehte er es und richtete es mithilfe des gestochen scharfen Handydisplays auf sein Ziel.
    Die Soldaten, die Cavaradossi erschießen sollten, nahmen ihre Positionen ein. Der Sergeant verband ihm die Augen mit einer Binde. Tosca hatte ihn instruiert, wie ein Toter umzusinken, obwohl die Gewehre der Soldaten laut Plan nicht geladen waren. Später würde Cavaradossi dann mit seiner Geliebten Tosca aus dem Gefängnis fliehen.
    Der junge Mann richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Punkt an Medinas Hals. Er lächelte. Katja hatte gute Arbeit geleistet. Sie hatte von ihm die Anweisung erhalten, James Medina auf den Hals zu küssen, um seine Stimmbänder zu »segnen«. Er hatte ihr erklärt, das sei dem abergläubischen Medina vor großen, schwierigen Arien besonders wichtig. Den Lippenstift hatte er zuvor mit phosphoreszierenden Partikeln präpariert, die jetzt wie ein Leuchtfeuer strahlten und im Zielfernrohr und auf dem Display das Ziel für die Kugel markierten.
    Der junge Mann achtete darauf, so gleichmäßig und entspannt wie möglich zu atmen. Jede noch so geringe Anspannung, die minimalste Verzögerung oder Unregelmäßigkeit des Atems konnte die Kugel von ihrem Kurs ablenken. Totale äußere Entspannung, absolute innere Konzentration, hatte Vater Joachim ihm eingebläut, immer und immer wieder. Das größte Problem war, genau vorauszusehen, wann die Schüsse auf der Bühne fielen. Er musste im exakt gleichen Augenblick schießen oder sogar eine Zehntelsekunde vor den Soldaten.
    Der speziell konstruierte Abzug saß seitlich am Opernglas und löste den Schuss über einen Federmechanismus aus. Das bedeutete eine minimale Zeitverzögerung, bevor sich der Schuss aus der Derringer löste, hatte aber den Vorteil, dass ihn auf diese Weise niemand den Abzug bedienen sah. Außerdem war die Gefahr
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