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Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)

Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Tödliche Ohnmacht: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: C. S. Forester
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durchgemacht haben musste.
    »Und so bin ich hierhergekommen«, sagte Marjorie vage und versuchte mit Gesten die Angst und Schwäche anzudeuten, die sie an der Victoria Station überwältigt hatte.
    »Verstehe«, sagte Millicent.
    Marjorie sah flehentlich in Millicents mitfühlendes Gesicht.
    »Werde ich gehängt, wenn sie mich fassen?«, fragte sie.
    »Nein!«, rief Millicent hitzig. »Niemals! Dich trifft doch ... gar keine Schuld.«
    Trotzdem zögerte sie mitten in diesem Satz. Sie hatte die Beteuerung in gutem Glauben begonnen. Erst als sie schon zu reden angefangen hatte, beschlichen sie Zweifel. Marjorie war gesagt worden, was geschehen würde, bevor sie dasHaus erreichten – »Wir töten ihn!«, hatte ihre Mutter gesagt. Und dennoch hatte Marjorie George und Mrs Clair in ihr Haus eingelassen und hatte, ohne einzugreifen, dabeigestanden, als das Verbrechen begangen wurde. Nach dem Gesetz war sie damit folglich genauso schuldig, welche moralischen Rechtfertigungen und Begründungen sie auch immer anführen konnte im Hinblick auf ihren geistigen Zustand zu jenem Zeitpunkt. Ein unglücklicher Zufall oder eine missglückte Verteidigungsstrategie könnte sie an den Galgen bringen, könnte diese wunderschöne junge Frau zu einer Masse toten Fleisches machen. Millicent spürte dieses seltsame Prickeln der Neugier, als sie jetzt eine Person betrachtete, deren gefährdetes Leben allein von den Juristen abhing, die bei einem Mordprozess zuhauf den Gerichtssaal füllten; und sie hasste sich zugleich dafür.
    »Ist das wahr?«, fragte Marjorie.
    »Ja«, erwiderte Millicent trotzig. Sie brachte es zuerst nicht über sich, etwas anderes zu sagen, wie immer sie es auch empfand. Sie begegnete Marjories fragendem Blick so offen, wie sie konnte. Doch dann zwang sie sich, den Grund ihrer Zweifel zu erwähnen.
    »Hör mal, Schatz«, begann sie und versuchte, eindringlich und zugleich doch beiläufig zu reden. »Du musst aufpassen, was du sagst, wenn ... wenn du je etwas sagen musst. Erzähl niemandem , was deine Mutter gesagt hat, als ihr zusammen die Simon Street hinaufgelaufen seid. Außer deinem Anwalt. Ihm kannst du es natürlich erzählen. Aber sonst niemandem .«
    »Wie meinst du das?«, fragte Marjorie ehrlich ahnungslos. Unwissenheit und Angst hatten sie daran gehindert, je die Vor- und Nachteile ihrer Situation mit Blick auf das Gesetz abzuschätzen.
    »Ich kann es nicht so richtig erklären«, sagte Millicent, immernoch verzweifelt bemüht, beiläufig zu klingen. »Aber ich bin mir sicher, dass ich recht habe. Und das meine ich ernst, Schatz. Denk immer daran, was ich dir gesagt habe, immer .«
    Millicent versuchte Marjorie davor zu warnen, bei einer dieser »freiwilligen Aussagen«, die die Polizei Gefangenen so geschickt aus der Nase zog, Eingeständnisse zu machen, die ihr später schaden würden. Doch sie konnte beim besten Willen nicht noch deutlicher werden. Das hätte bedeutet, kaltblütig die Wörter »Polizei« und »Verhaftung« in den Mund zu nehmen, und hätte eine Unlauterkeit ahnen lassen, die sie nicht dulden konnte.

22
    Für Millicent war es sehr warm und unbequem in dem schmalen Einzelbett mit Marjorie an der Seite. Doch sie lag fast die ganze Nacht eisern reglos da und ertrug lieber Krämpfe und Unbehagen, als das Risiko einzugehen, die tief schlafende Marjorie zu stören, deren schwere Atmung bezeugte, wie erschöpft sie war. Sie hörte das Klirren, als der Milchmann mit seinem Träger voller Flaschen den Hausflur entlangkam – eine Sonderregelung erlaubte es ihm, das Gebäude schon früh am Morgen zu betreten und den üblichen Viertelliter Milch (es war ausnahmslos ein Viertelliter) vor alle Türen zu stellen, hinter denen je eine alleinstehende berufstätige Frau schlief. Abgesehen davon blieb es in dem Gebäude am heutigen Sonntagmorgen sehr viel länger ruhig als an den Werktagen.
    Später hörte sie einige Türen auf- und zuklappen und Schritte die Hausflure entlangeilen. Das waren die Katholikinnen, die zur Frühmesse gingen. Die nicht so Gläubigen und die Ungläubigen blieben viel länger im Bett liegen. Ganz allmählich erwachte das Haus vollständig, und schließlich drang das Auf- und Zuklappen der Türen, wenn die berufstätigen Frauen ihre Milch hereinholten, immer häufiger an ihr Ohr, wie ein gedämpftes Murmeln des Lebens, so als würde ein schläfriger Bienenkorb langsam erwachen. Erst da begann Marjorie neben ihr sich zu regen und wachte auf. Es war immer noch Angst in ihr –
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