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Todsünde

Todsünde

Titel: Todsünde
Autoren: Tess Gerritsen
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Glaser-Blue-Tip-Projektil im Brustkorb der Rattenfrau hinterlassen hatte, und wusste genau, womit es die Chirurgen in diesem Moment zu tun hatten. Die Lunge durchlöchert von Metallsplittern. Blutungen aus einem Dutzend verschiedener Gefäße. Die Panik, die ein OP-Team erfasst, wenn es zusehen muss, wie der Patient ausblutet und die Operateure mit dem Anbringen der Gefäßklemmen nicht mehr nachkommen.
    Sie blickte auf, als Rizzoli das Zimmer betrat. In der einen Hand hielt sie einen Becher Kaffee, in der anderen ein Handy. »Wir haben Ihr Telefon gefunden, es lag neben dem Gartentor im Schnee«, sagte sie und drückte Maura das Gerät in die Hand. »Und der Kaffee hier ist für Sie. Trinken Sie.«
    Maura nippte daran. Der Kaffee war zu süß, aber heute Nacht war ihr die Überdosis Zucker gerade recht. Alles war ihr recht, was ihrem erschöpften und malträtierten Körper neue Energie zuführte.
    »Kann ich Ihnen sonst noch irgendwas bringen?«, fragte Rizzoli. »Brauchen Sie irgendwas?«
    »Ja.« Maura sah von ihrem Kaffeebecher auf. »Ich muss die Wahrheit wissen.«
    »Ich sage immer die Wahrheit, Doc. Das wissen Sie doch.«
    »Dann sagen Sie mir, dass Victor nichts damit zu tun hatte.«
    »Hatte er nicht.«
    »Sind Sie sich da absolut sicher?«
    »So sicher, wie man nur sein kann. Ihr Ex ist vielleicht ein Riesenarschloch, er hat Sie vielleicht nach Strich und Faden belogen – aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er niemanden umgebracht hat.«
    Maura ließ sich gegen die Rückenlehne der Bank sinken und seufzte. Dann starrte sie den dampfenden Becher in ihrer Hand an und fragte: »Und was ist mit Matthew Sutcliffe? Ist er wirklich Arzt?«
    »Ja, das ist er tatsächlich. Er hat einen Doktortitel von der University of Vermont. Seine Assistenzzeit in der Inneren Medizin hat er in Boston absolviert. Es ist schon interessant, Doc, wie diese zwei kleinen Buchstaben vor dem Namen einem alle Türen öffnen. Da kann ich ganz einfach in ein Krankenhaus reinspazieren, dem Personal erzählen, einer meiner Patienten sei gerade eingeliefert worden, und niemand stellt mir irgendwelche Fragen. Schon gar nicht, wenn ein Verwandter des Patienten anruft und meine Geschichte bestätigt.«
    »Ein Arzt, der als bezahlter Killer arbeitet?«
    »Wir wissen nicht, ob Octagon ihn tatsächlich bezahlt hat. Ich glaube eigentlich nicht, dass die Firma irgendetwas mit diesen Morden zu tun hatte. Sutcliffe hatte vielleicht seine eigenen Motive.«
    »Welche Motive?«
    »Sich selbst zu schützen. Die Wahrheit über das, was in Indien passiert ist, zu vertuschen.« Rizzoli bemerkte Mauras verwunderten Blick und fuhr fort: »Octagon hat jetzt endlich eine Liste seiner Mitarbeiter in dieser Fabrik in Indien herausgerückt. Es gab da auch einen Betriebsarzt.«
    »Und das war er?«
    Rizzoli nickte. »Dr. Matthew Sutcliffe.«
    Maura starrte den Fernsehbildschirm an, doch in Gedanken war sie nicht bei den bunten Bildern, die sie dort sah. Sie dachte an Scheiterhaufen, an brutal zerschmetterte Schädel. Und sie dachte an ihren Albtraum, an das Feuer, genährt von Menschenfleisch. An die Leiber, die sich noch bewegt hatten, die sich in den lodernden Flammen gewunden und gezuckt hatten.
    »In Bhopal sind sechstausend Menschen gestorben«, sagte sie.
    Rizzoli nickte.
    »Aber am nächsten Morgen waren Hunderttausende noch am Leben.« Maura sah Rizzoli an. »Wo sind die Überlebenden von Bara geblieben? Die Rattenfrau kann doch nicht die Einzige gewesen sein.«
    »Und wenn sie nicht die Einzige war, was ist dann aus den anderen geworden?«
    Sie starrten einander entgeistert an. Plötzlich begriffen sie beide, was Sutcliffe so verzweifelt zu verheimlichen versucht hatte. Nicht den Unfall selbst, sondern das, was anschließend passiert war. Und die Rolle, die er selbst dabei gespielt hatte. Maura dachte an die Bilder des Grauens, die ihn an jenem Abend erwartet haben mussten, nachdem die Giftwolke über das Dorf hinweggezogen war. Ganze Familien, die tot in ihren Betten lagen. Leichen auf den Wegen zwischen den Hütten, erstarrt im Todeskampf. Der Fabrikarzt musste der Erste gewesen sein, den sie ausgeschickt hatten, um den angerichteten Schaden zu begutachten.
    Vielleicht war ihm gar nicht klar gewesen, dass einige der Opfer noch am Leben waren. Vielleicht hatte er es erst bemerkt, nachdem die Entscheidung, die Leichen zu verbrennen, schon gefallen war. Es mochte ein Stöhnen gewesen sein, das ihn darauf aufmerksam gemacht hatte, oder das Zucken eines Arms
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