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Todesengel: Roman (German Edition)

Todesengel: Roman (German Edition)

Titel: Todesengel: Roman (German Edition)
Autoren: Andreas Eschbach
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ich keines unserer vier bis fünf Kinder jemals schlagen werde.«
    »Vier bis fünf?«, japste sie. »Neulich war noch von zwei bis drei die Rede.«
    »Ich hab’s mir anders überlegt.«
    »Wart, bis das erste da ist und dir den Nachtschlaf raubt.«
    »Netter Versuch. Aber mir ist es lieber, Babygeschrei hält mich wach als ein ungelöster Fall.« Er küsste sie warm und innig.
    Später, als sie im Wohnzimmer auf der Couch lagen, eine Decke über sich gezogen, meinte er: »Hab ich übrigens schon erzählt, dass dieser Pochardt gestorben ist? Das ist einer von den drei –«
    »Ich weiß, wer das ist«, sagte Victoria.
    »Leberzirrhose. Hat eine Woche lang tot in seiner Wohnung gelegen, ehe man ihn gefunden hat.«
    »Die armen Leute, die das jetzt sauber machen müssen.«
    Justus musterte sie befremdet. »Du strahlst bei diesem Thema irgendwie immer so etwas Unversöhnliches aus.«
    »Ja?« Victoria horchte in sich hinein, spürte eine harte, kalte, unnachgiebige Stelle auf dem Grund ihrer Seele. Unversöhnlich war gar kein so falsches Wort dafür. »Kann schon sein. Dieser Mann hat nie bereut, was er getan hat, ist mit einer läppischen Strafe davongekommen und hat sich die ganze Zeit nur selber bemitleidet. Vielleicht gibt es jemanden, der bedauert, dass er tot ist, aber ich jedenfalls nicht. Fände ich viel verlangt.«

EPILOG
Die anderen nannten ihn den Mann mit den traurigen Augen. Er war nicht mehr jung, hatte graue Haare und einen gebeugten Rücken und strich durch die Favelas von Belém, seit Lucas denken konnte. Es kursierten die absonderlichsten Geschichten darüber, was der Alemão hier eigentlich zu suchen hatte, doch von denen glaubte Lucas keine einzige.
    Man tat gut daran, solche Geschichten grundsätzlich nicht zu glauben.
    Sie interessierten ihn auch nicht. Das Einzige, was ihn interessierte, war die abgeschabte, lederne Umhängetasche, die der Mann immer mit sich herumtrug. Niemand wusste, was darin war, aber sicher war es etwas Wertvolles. Ein Computer vielleicht oder zumindest ein Telefon, das man zu Geld machen konnte. Lucas kannte jemanden in Ponta Grossa, der einem für solche Dinge Geld gab, ohne Fragen zu stellen. Und Geld, das brauchte er. Dringend sogar. Nicht nur, weil er hungrig war – an Hunger war er gewöhnt; Hunger konnte man aushalten, wenn es sein musste –, sondern weil er Felipe Geld schuldete. Und Felipe hatte gedroht, ihm den kleinen Finger zu brechen, wenn er nicht zahlte.
    Man tat gut daran, solche Drohungen grundsätzlich ernst zu nehmen.
    Also kam es wie gerufen, dass der Mann mit den traurigen Augen mal wieder auf dem Betonklotz mit dem Loch in der Mitte saß. In dem Loch hatte einmal ein großes eisernes Kreuz gesteckt, bis es jemand herausgerissen und als Altmetall verkauft hatte. Der Mann saß oft hier, ein Notizbuch auf dem Schoß, in dem er Seite um Seite vollschrieb, total konzentriert und ohne aufzusehen.
    Seine lederne Tasche lag schräg hinter ihm, einfach so. Sie zu schnappen und damit wegzurennen würde ein Kinderspiel sein. Bis zur nächsten Quergasse waren es zwanzig, dreißig Schritte, und wenn Lucas es erst einmal bis dahin geschafft hatte, würde ihn der Gringo nie mehr erwischen, das stand fest.
    Er musste nur nahe genug an ihn herankommen.
    Lucas bewegte sich ganz allmählich. Es war ihm gelungen, sich unauffällig hinter den Rücken des Mannes zu manövrieren; nun blieb nur noch, sich geräuschlos in Reichweite der Tasche zu bringen. Langsam, aber trotzdem rasch genug, dass niemand sonst merkte, was er vorhatte, und womöglich auf die Idee kam, ihm die Tasche wegzuschnappen.
    Noch ein Stück näher. Der Mann hörte und sah nichts. Sein Kugelschreiber bewegte sich kratzend über das Papier, glänzte in der Sonne.
    Lucas rückte noch eine Armlänge weiter nach vorn. Von hier aus brauchte er nur die Hand auszustrecken, um die Tasche zu packen.
    Er sah sich ein letztes Mal um, ob ihn jemand beobachtete. Niemand. Er holte tief Luft.
    Jetzt.
    Im selben Moment, in dem er zufassen wollte, tauchte wie aus dem Nichts eine Hand auf, die die seine mit stählernem Griff am Gelenk packte. Als er erschrocken aufschaute, sah er direkt in die traurigen Augen.
    »Du wolltest mir gerade die Tasche stehlen«, sagte der Mann.
    »Nein«, rief Lucas, »ich …« Aber das, was der Mann gesagt hatte, und vor allem, wie er es gesagt hatte, war so wahr, dass ihm keine Ausrede einfallen wollte. »Ja«, gestand er also.
    Der Mann erwiderte nichts, sah ihn nur an und hielt ihn fest,
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