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Tod in Innsbruck

Tod in Innsbruck

Titel: Tod in Innsbruck
Autoren: Lena Avanzini
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nahm sie eine Bewegung wahr; fuhr panisch herum. Als sie ihr eigenes Gesicht im Garderobenspiegel erkannte, musste sie sich das Lachen verbeißen.
    Was sollte sie tun? Warten, bis Mette oder ihre Tante auftauchte? Oder still und heimlich jedes einzelne Zimmer durchsuchen?
    Vera beschloss, mit dem Durchsuchen anzufangen, und entschied sich für die erste Zimmertür zu ihrer Linken. Beherzt wollte sie sie öffnen, als ein leises Scharren an ihr Ohr drang. Die Härchen an ihren Armen sträubten sich.
    Das Geräusch war aus dem oberen Stockwerk gekommen.
    Eine Stimme in ihrem Kopf sagte: Nein!
    Doch irgendetwas trieb sie weiter, unerbittlich.
    Stufe für Stufe schlich Vera hinauf. Die vorletzte Stufe knarrte, in Veras Ohren klang es wie ein Flugzeugabsturz. Wieder hörte sie ein Geräusch. Ein Schaben diesmal. Wie ferngesteuert ging sie auf den Raum zu, dessen Tür nur angelehnt war. Dahinter brannte Licht.
    Als sie der Tür einen Stoß versetzte, nahm sie drei Dinge gleichzeitig wahr.
    Erstens, sie befand sich in einer Küche mit einem alten Herd und gusseisernen Pfannen an der Wand.
    Zweitens, auf dem Küchentisch lag ein nackter Mann, dessen Rücken blutverschmiert war.
    Drittens, der Mann war Robert. Sie erkannte ihn an seinen Kleinmädchenfüßen und den sternförmigen Narben am Unterschenkel.
    Ihr Herz begann zu rasen.
    »Robert!«
    Er reagierte nicht. Entsetzt starrte sie auf die frische Tätowierung. Nach einer Schreckenssekunde tat ihr Hirn wieder seinen Dienst. Vera hielt ihre Uhr an seinen Mund. Das Uhrglas beschlug, also atmete er.
    Hol Hilfe. Nimm dein Handy.
    Sie fischte es aus der Hosentasche und tippte die Nummer des Notrufs ein.
    Plötzlich spürte sie einen Luftzug; wirbelte herum; sah die offene Schranktür; ein Gesicht, zu einer Maske verzerrt; eine Bratpfanne, die auf sie zu schwang.
    Ihre Abwehrbewegung kam zu spät.
    Weißes Licht explodierte in ihrem Kopf. Den blechernen Schlag hörte sie nicht mehr.
     
    Das Erste, was sie fühlte, war Schmerz. Dumpfen, drückenden Schmerz. Als hätte jemand ihre Hirnschale mit Beton ausgegossen.
    Übelkeit stieg auf, blieb als galliger Geschmack auf ihrer Zunge kleben. Vera schluckte. Langsam ebbte der Brechreiz ab.
    Sie hörte Geräusche, einen leisen Singsang, ein monotones Surren.
    Ihre Handgelenke brannten. Ihr wurde bewusst, dass sie auf einem Stuhl saß und ihre Hände einzeln an die Rückenlehne gefesselt waren, mit Bändern, die sich hart anfühlten; wie Kunststoff.
    Kabelbinder.
    Einen Herzschlag später fiel ihr alles wieder ein.
    Sie öffnete die Augen. Sah nur Schlieren und schwarze Punkte. Blinzelte.
    Als es ihr gelang, das Bild scharf zu stellen, grinste Mettes bleiche Fratze sie an.
    »Wie schön, dass du wach bist, Vera! Du kannst mir beim Komponieren zusehen. Dies wird mein Opus vier. Genau genommen Opus fünf, aber das erste gilt nicht, das habe ich verdorben.«
    Vera schluckte. Das bedeutete, dass es bereits vier Todesopfer gab. Robert wäre das fünfte.
    »Der Auserwählte, der durch meine Kunst in die Geschichte eingehen wird, ist Dr. Nemetz, ein sehr guter Arzt. Er hat meinen Finger zusammengeflickt.« Mit einem Wattetupfer säuberte Mette Roberts Haut von Blut und überschüssiger Farbe. »Aber ihr scheint euch ja zu kennen. Da freut es dich bestimmt, dass ich dich für den letzten Satz meiner Hautsonate ausgesucht habe.«
    Sie ist vollkommen irrsinnig. Warum habe ich das nicht früher bemerkt?
    Roberts Schulter zuckte. Ein lang gezogenes Stöhnen ließ Vera frösteln. Wie lange würde er wohl noch durchhalten? Mette griff zu einer Spritze und jagte sie ihm in den Schenkel.
    Nach einiger Zeit hörten Roberts Zuckungen auf. Er lag so still wie zuvor.
    Möglichst unauffällig versuchte Vera, an ihren Fesseln zu rütteln. Die Kabelbinder gaben nicht nach, aber sie waren nicht sehr eng zusammengezogen. Es gab einen Spielraum. Offensichtlich hatte Mette sie in der Eile nicht fest genug gezurrt.
    Ich muss die Verrückte ablenken. Zeit gewinnen.
    »Warum tust du das?«
    »Warum? Ein Genie fragt nicht nach dem Warum. Es tut, was es tun muss. Glaubst du, ein Leonardo, ein Shakespeare, ein Mozart haben sich um irgendwelche Warums gekümmert? Glaubst du, ein Wagner, ein Nietzsche, ein Einstein haben sich von Traditionen, Regeln oder Gesetzen aufhalten lassen? Man muss Grenzen überschreiten, um über das Mittelmaß hinauszugelangen.«
    Die Tatsache, dass ihre Füße nicht gefesselt waren, gab Vera Hoffnung. Sie musste versuchen, ihre Hand so schmal
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