Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tod im Jungfernturm

Tod im Jungfernturm

Titel: Tod im Jungfernturm
Autoren: Anna Jansson
Vom Netzwerk:
Last von Angst und Schuld, war das unbegreiflich. Wie war doch ihr Leben von diesen Gefühlen angefüllt – Angst und Schuld. Manchmal hatten sie sich betäuben lassen, aber immer nur für einen Augenblick. Im Laufe der Jahre waren sie wie siamesische Zwillinge ohne eigenes Herz mit ihrem eigenen Ich zusammengewachsen.
    Angst und Schuld. Vater hatte sie ins Gesicht geschlagen, ihre Haare fest gepackt und ihren Kopf gegen das Bettgestell gedonnert, bis sie keine Luft mehr kriegte. »Du verdammtes Balg bist an meiner Brieftasche gewesen!« Das stimmte. Die letzten Bonbons hatten nach Angst geschmeckt. Die letzten beiden. Die übrigen hatte sie verteilt, um dabei sein zu dürfen, um eine von ihnen sein zu dürfen, wenn auch nur für einen Augenblick. Sie hatte nicht damit gerechnet, daß Anselm es merken würde. Schließlich hatte sie immer nur ganz wenig genommen. Sie versuchte, sich vor seinem Mundgeruch zu schützen. Er stank nach Suff. Seine verzerrten Gesichtszüge vibrierten auf der Netzhaut. »Steh auf, wenn ich mit dir red! Seh mir inne Augen!« hatte Anselm gebrüllt. Sie hatte sich gezwungen, das Kinn hochzunehmen, und im selben Moment gespürt, wie ihr etwas Warmes und Feuchtes an den Beinen entlanglief. »Verdammtes Balg, stehste da und pißt dich ein! Ich werd’s dir zeigen …« Ein Schatten, der ihre Mutter war, ging dazwischen und wurde zu Boden geschlagen. Ein gequältes Weinen, ein heulender Schlag, der mit einem krachenden Geräusch niederdonnerte. Die alles übertönende Stille. Mona hatte es geschafft, hinauszukriechen und sich unter der Steintreppe zu verstecken. Vor Furcht erstarrt hatte sie den Schrei und den Schlag von drinnen gehört, unfähig, der zu helfen, die sie gerettet hatte.
    Das war die schwerste Schuld. Daß der Mut sie so völlig verlassen hatte. Eine wütende Männerstimme, und sie wurde zu einem nassen Fleck auf dem Fußboden. So war es immer noch. Sie dachte an das Bündel da im Kofferraum. Wenn Wilhelm nun nicht richtig tot war! Wenn er sich im blinden Zorn auf sie stürzte, sobald sie den Kofferraum aufmachte. Nein, es war kein Pulsschlag mehr an seinem Hals gewesen. Das Leben war aus seinen Augen gewichen. Zwei Schläge, ein tödlicher und einer zur Sicherheit, das sollte für immer und ewig genügen.
    Sie bog auf den Kiesweg ein, blieb am vereinbarten Ort stehen und zog sich die Arbeitshandschuhe an, genau wie der Mann, dem sie zu Willen war. Sie schleiften den Toten über die Kante und gingen dann im Mondlicht den Weg weiter. Sie bewegte sich unsicher in ihren dünnen Sandalen vorwärts. Der Mann, der vor ihr ging, ließ ihr aus Versehen einen Ast ins Gesicht schnellen. Es tat nicht weh auf der Haut, sondern fühlte sich eher an wie neue, weiche Tannensprößlinge. Die Angst war der Auslöser für den Schmerz. Dies war der Tropfen, der die Tränen überlaufen ließ und sie blind machte. Er ermahnte sie, leise zu sein, blieb stehen und horchte. Doch da waren nur die Geräusche der Nacht, der Wind in den Baumwipfeln, das Geraschel der kleinen Tiere im hohen Gras und das fast unmerkliche Rollen des Meeres an den Strand. Das Weinen, das in die Kehle zurückgedrückt wurde, übertönte sie alle. Sie hatte sich gewünscht, daß er sie umarmt hätte, doch das konnte er wahrscheinlich nicht. Dann hätten Härte und Entschlossenheit nachgelassen.
    Sie trugen Stein um Stein in den Händen. Bedeckten den Körper, bis das Mondlicht den Toten im Grabhügel nicht mehr erreichen konnte. Und da passierte es: Als sie sich gerade nach dem letzten Stein streckte und ein Stück den Steinhaufen hinaufstieg, spürte sie den Schmerz. Den Schmerz, der sie später verraten und zur Anklage führen würde. Ein schwacher zischender Laut. Sie bemerkte es kaum. Dann das Brennen am Bein und das Rasseln, als der schuppige Körper mit seinem Zickzackmuster versuchte, sich davonzuschlängeln. Sie stand auf seinem Schwanz. Die Schlange erhob den Kopf erneut und wandte sich ihr zu. Unbeweglich beobachteten sie einander. Dann schwang das Tier den Körper hin und her und kam mit seiner spielenden Zunge auf sie zu.
    Sie stampfte auf und hörte, wie der Kopf zwischen den Steinen und der zerschlissenen Sohle der Sandale zerquetscht wurde, spürte, wie er unter dem Schuh nachgab. Schreiend lief sie ins Gebüsch und hielt sich die Hände schützend vors Gesicht, versuchte, den Weg heraus zu finden, während ihr die Bilder vor den Augen flimmerten. Grauschwarze Äste zerkratzten ihre Beine. Die feste Faust über dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher