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Tod Im Anflug

Titel: Tod Im Anflug
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Aufregung.
    Dutzende fragende Augenpaare fixierten Tom nun und er spürte, wie seine Zufriedenheit, die er soeben noch hoch oben in der Luft empfunden hatte, langsam einem unbehaglichen Gefühl wich. Im Mittelpunkt zu stehen war nicht seine Sache. Sie alle waren neugierig, wahrscheinlich sogar sensationslüstern, und wollten Details erfahren. Doch für einen jungen Ganter wie ihn, der in der Hackordnung ganz weit unten rangierte, war diese geballte Aufmerksamkeit ziemlich ungewohnt.
    »Na ja, was soll ich sagen«, antwortete er zögernd. »Es stimmt, was ihr gehört habt. Neptunus, der Reiher … ist tot.«
    Ein Raunen ging über den See. Neben zahlreichen Blässhühnern, Stockenten, Grau- und Nilgänsen hatten sich auch ein paar elegante Schwäne und betroffene Reiher eingefunden. Sogar einige überaus scheue Haubentaucher unterbrachen ihre intensive Balz, um auf dem Laufenden zu bleiben. Tom schaute in die Runde, und sein Blick verharrte bei der Gruppe Reiher, die wie traurige Bestattungsunternehmer im grauen Anzug am Ufer beieinanderstanden. Sie schauten ihn erwartungsvoll an, und Tom beschloss zu sprechen. Sie hatten ein Recht darauf, zu erfahren, was er gesehen hatte, obwohl er es ihnen lieber im kleinen Kreis erzählt hätte.
    »Ich habe ihn zufällig entdeckt, als ich heute Morgen zum Baden an den See kam. Da lag er … im Gras.« Tom stockte und blickte in Richtung der Reiher. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich euch das zumuten kann«, sagte er mit belegter Stimme.
    Die neugierigen Zuhörer ringsherum konnten ihre Enttäuschung kaum verbergen.
    »Sprich ruhig, Tom. Wir verkraften das schon«, meldete sich Veha, der älteste Reiher, zu Wort. Die anderen Reiher nickten, und die übrigen Zuhörer wirkten wieder zufrieden.
    »Ich ging dort hinten«, Tom zeigte mit seinem Schnabel in Richtung der Bootsstege, »die Böschung zum See hinunter, als ich beinahe über ihn gestolpert wäre. Er lag mit verrenkten Gliedern da, und sein Schnabel war weit aufgerissen. Ich habe einen so weit offen stehenden Schlund noch nie gesehen.«
    Für einen Moment hatten sich die stets beherrschten Reiher nicht unter Kontrolle, selbst der alte Veha nicht. Sie ließen ihre Flügel flattern und tänzelten dabei aufgeregt herum.
    »Es tut mir leid«, fuhr Tom mit gedämpfter Stimme fort, »aber das war noch nicht alles. Ich habe euch noch mehr zu berichten.«
    »Nur zu, Tom. Je eher wir es erfahren, desto eher haben wir es hinter uns.« Veha hatte als Erster der Reiher seine Fassung wiedergefunden.
    »Er hatte eine tiefe, frische Wunde in seiner Brust.«
    Einige Wasservögel schnappten nach Luft, voller Abscheu, aber auch fasziniert vom Geschehen. Sie hatten so manches erwartet – und der eine oder andere vielleicht auch erhofft –, aber nicht in diesem Ausmaß. Neugierig blickten sie Tom an.
    Mit so viel wohlwollender Beachtung waren ihm seine Artgenossen bisher noch nie begegnet. Langsam gab ihm dieses Interesse mehr Sicherheit. Sie hörten ihm tatsächlich zu. Ihm, der am Tag zuvor noch gedacht hatte, er würde von niemandem, außer Gleichaltrigen, wahrgenommen. Er konnte es nicht leugnen: Diese unerwartete Aufmerksamkeit schmeichelte ihm. Mehr, als er zugeben mochte.
    »Und was hast du dann gemacht?« Vri Jon, ein weiterer Reiher, der auf einem Bein bis zum Kniegelenk im seichten Wasser stand, schluckte.
    Tom überlegte. Er kam nun langsam in einen Gewissenskonflikt. Denn bislang wusste niemand von seiner geheimen Leidenschaft, einer Passion, die er bereits seit einiger Zeit mit sich herumtrug und die er noch keinem seiner Artgenossen anvertraut hatte. Und selbst wenn er sich jemandem anvertraut hätte, so war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihn ohnehin niemand verstand. Denn wie hätte Tom erklären sollen, dass er, ein durchschnittlicher Nilganter, wie es sie millionenfach auf der Erde gab, über gewisse kriminalistische Vorkenntnisse verfügte. Ganz zu schweigen davon, dass wahrscheinlich kein Vogel etwas mit dem Begriff
kriminalistisch
anfangen konnte. Nun aber wurde er direkt gefragt und mochte den Reihern nichts vorlügen. Mittlerweile ohnehin etwas mutiger geworden, entschied er sich also für die Wahrheit.
    »Ich habe ihn in Augenschein genommen«, sagte er forsch. »Eine grobe Leichenschau gemacht.«
    »Du hast
was
?« Seine Hörerschaft war maßlos überrascht. Spitzes, schockiertes Geschnatter machte die Runde.
    »Na, ich habe die Leiche untersucht.« Seine Artgenossen hatten ja so was von keine Ahnung! »Ich habe
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