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Timm Thalers Puppen

Timm Thalers Puppen

Titel: Timm Thalers Puppen
Autoren: James Krüss
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sich am
    Laufband versammelt, das die Koffer transportiert. Aber das Band steht still. Kein einziger Koffer ist bis jetzt nach oben befördert worden. Die Leute werden unruhig. Es ist auch kein Reiseleiter zu sehen. Was ist passiert? Warum kommt
    niemand, um sie aufzuklären? Wo bleiben die Koffer?
    Da kommt ein kleiner dicker Rheinländer, der sich auf dem Flughafen umgetan hat, und sagt in unbeirrbarer rheinischer Fröhlichkeit: »Die han käine Betten för ons.«
    Keine Betten? Die Unruhe schlägt in Panik um. Alles
    schreit und redet durcheinander. Keine Betten? Wieso denn keine Betten? Es ist doch, so wird aufgetrumpft, alles schon längst geregelt und bezahlt. In angesehenen deutschen Reisebüros. In Düsseldorf und Köln. In Hamburg und
    Hannover. In Krefeld, Fulda oder Rothenburg.
    Inzwischen laufen im Süden der Insel, wo die Hotels
    stehen, die Telefone heiß. Fünf, sechs Betten sind vielleicht noch zu haben, im alleräußersten Falle auch acht oder zehn, aber hundertachtundsiebzig Betten, das ist ausgeschlossen.
    Und da, als wär’s ein Weihnachtsengel, mischt sich ein kleines Mädchen ein in das verfahrene Spiel: Gabriela Hernandez Schlüter, elf, Tochter eines spanischen
    Hoteldirektors und einer deutschen Mutter. Sie hebt zufällig den Hörer ab, als Reiseboß Borns nach Zimmern fragt, obwohl die Gesellschaft, die er vertritt, diesem Hotel vertraglich nicht verbunden ist.
    »Könnten Sie uns über Weihnachten und Neujahr
    wenigstens aushelfen?« fragt er.
    Gabriela, das schlaue Kind eines sehr schlauen Vaters, antwortet: »Wir hätten noch zweihundert Betten frei. Aber wir sind ein ganz besonderes Hotel: Wir bieten Fischgeruch mit Meeresblick.«
    »Fischgeruch mit Meeresblick?« Borns jubelt: »Das ist genau das, was die Leute wollen.«
    Aber dann macht er eine Pause und fragt mißtrauisch:
    »Fischgeruch mit Meeresblick? Was soll denn das bedeuten?«
    »Es soll bedeuten«, sagte Gabriela, »daß man von allen Zimmern aus das Meer sehen kann. Und der Fischgeruch soll die Gäste davon abhalten, fettes Fleisch zu essen. Das ist in diesem Klima gar nicht gesund. Fisch ist gesünder.«
    Reiseboß Borns macht »hm« und murmelt: »Also
    Fischgeruch. Da könnte es natürlich Beanstandungen geben.«
    »Aber das ist doch unsere Attraktion für Weihnachten«, sagt Gabriela. »Unsere Werbung heißt: ’Feiern Sie
    unbeschwerte Weihnachten in unserem Haus. Kein
    Geschenkezwang. Kein Christkinds-Geplärre. Kein Stille-Nacht-Gedudel. Kein zähes Truthahnfleisch. Statt dessen: Fischgeruch mit Meeresblick.’«
    »Großartig!« Reiseboß Borns ist plötzlich ganz begeistert.
    »Einfach großartig, mein Kind. Da ist der Fischgeruch ja sinnvoll motiviert. Sind einhundertundachtundsiebzig Betten frei?«
    »Ich glaube, ja«, sagt Gabriela. »Warten Sie einen
    Augenblick. Ich werde meinen Vater rufen.«
    Eine Stunde später lesen hundertachtundsiebzig glückliche Menschen, teils laut, teils leise, je nach Temperament: Feiern Sie unbeschwerte Weihnachten in unserem Haus. Kein
    Geschenkezwang. Kein Christkinds-Geplärre. Kein Stille-Nacht-Gedudel. Kein zähes Truthahnfleisch. Statt dessen: Fischgeruch mit Meeresblick.
    Die Menschen lachen und drängen ins Hotel. Hein Köhn, der Chef der Fischbratküche, zweiundvierzig, macht an diesem Heiligen Abend das Geschäft seines Lebens.
    Was beinahe eine Katastrophe geworden wäre, endet
    schmatzend und lachend bei Seehecht gebraten und Thunfisch gegrillt.
    So berichtete der bekannte Reporter in seiner Zeitung und brachte dadurch neue Gäste in das Haus. Der alte Name des Hotels, »Casa Gabriela«, ist inzwischen geändert worden. Es heißt jetzt »Fischgeruch mit Meeresblick«; denn da der Zustrom neuer Gäste gar nicht aufhört und also niemals Zeit ist, hier die Wände aufzumeißeln, steht auch das Rohrsystem noch immer mit der Fischbratküche in Verbindung, und alle Zimmer machen duftende Reklame für Seehecht gebraten und Thunfisch gegrillt.
    Als Timm Thaler die Geschichte erzählt hatte und die Augen wieder öffnete, hörte ich ein keckerndes Lachen, nicht unähnlich dem Keckem einer Elster, und eine Stimme sagte:
    »Gerissen, gerissen!« Es war der bleiche Tourist mit dem rotweißen Pulli, der sprach. Timm Thaler antwortete: »Gewiß, irgendwie war das gerissen, aus einem fehlerhaften
    Rohrsystem eine Attraktion zu machen. Aber wenn alles zwischen den Menschen nur noch nach Gerissenheit
    funktioniert, Baron, was gibt denn das für eine Welt?«
    Baron? Ich sah Timm fast
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