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Timm Thaler

Timm Thaler

Titel: Timm Thaler
Autoren: James Krüss
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ausnahmsweise einmal lobte, weil er zehn Pfund Kartoffeln allein
    nach Haus geschleppt hatte, dann war er selig, hilfsbereit und
    butterweich. Doch kaum kam der nächste ungerechte Verweis, da
    wurde er wieder verschlossen und spielte den Stolzen. Dann war er nicht mit Zangen anzufassen.
    Dieses launenvolle Wechselspiel zwischen ihm und der
    Stiefmutter hatte für die Schule üble Folgen. Timm, der viel flinkere Gedanken hatte als manches andere Kind, bekam dennoch
    schlechtere Noten als diese Kinder. Und das lag an seiner
    Zerstreutheit beim Unterricht. Und es lag an seinen Schularbeiten.
    Es war nämlich schwierig für ihn, Schularbeiten zu machen.
    Kaum saß er mit seiner Tafel am Küchentisch, kam die Stiefmutter
    und schickte ihn in das Kinderschlafzimmer. Hier aber war das
    Reich seines Stiefbruders Erwin, der dem Kleinen keine Minute
    Ruhe ließ. Entweder wollte er mit Timm spielen und wurde böse,
    wenn der Kleine nicht mitmachte, oder er benötigte den Tisch für
    seinen Stabilbaukasten, so daß für Timm kein Platz zum Schreiben
    blieb. Einmal hatte Timm den Stiefbruder aus gerechtem Zorn in die Hand gebissen. Aber das war nicht gut für ihn abgelaufen. Die
    Stiefmutter hatte über der blutenden Hand Zeter und Mordio
    geschrien und Timm einen Heimtücker genannt. Selbst der Vater
    hatte beim Abendbrot kein Wort mit ihm gesprochen. Seitdem hatte
    Timm den Kampf gegen den verhätschelten Stiefbruder aufgegeben
    und heimlich im Elternschlafzimmer seine Schularbeiten gemacht.
    Aber Ervvin kam dahinter und verriet ihn; denn eines der Gebote in der Gassenwohnung hieß: Im Schlafzimmer der Eltern haben Kinder
    nichts zu suchen!
    Nun mußte Timm zusehen, wie er in der wenig erfreuliehen
    Gesellschaft Erwins seine Schularbeiten erledigte. Machte der
    Stiefbruder ihm wieder einmal den einzigen kleinen Tisch des
    Zimmers streitig, setzte Timm sich auf das Bett und schrieb auf dem Nachtschrank. Aber sehr aufmerksam konnte er weder am Tisch
    noch auf dem Nachtschränkchen arbeiten. Nur mittwochs, wenn
    Erwin am Nachmittag Unterricht hatte, konnte der Junge seine
    Hausaufgaben so sorgfältig machen, wie er sie zu machen wünschte, um dem Lehrer zu gefallen; denn der kleine Kerl, der so hübsch
    lachen konnte, wollte mit seiner Umwelt in freundlichem Einklang
    leben.
    Bedauerlicherweise gefielen seine Schularbeiten dem Lehrer von
    Jahr zu Jahr weniger. „Ein heller Kopf, aber faul und
    unkonzentriert“, sagte der Lehrer. Er konnte nicht ahnen, daß der Junge sich seinen Platz für die Schularbeiten tagtäglich neu
    erkämpfen mußte. Und Timm erzählte es ihm nicht, weil er
    überzeugt war, es sei dem Lehrer bekannt. So kam Timm auch in der Schule wieder einmal zu dem traurigen Schluß, daß das Leben
    unbegreiflich sei und daß alle Erwachsenen – mit Ausnahme seines
    Vaters – ungerecht wären.
    Aber auch dieser einzige Gerechte verließ ihn. Vier Jahre nach
    dem Schulbeginn, vier Jahre, nachdem der Junge sich mühsam von
    Klasse zu Klasse weitergeschleppt hatte, wurde der Vater auf dem
    Bau von einem herabstürzenden Brett erschlagen.
    Das war das Allerunbegreiflichste in Timms Leben. Er begriff
    nicht, daß es einem fallenden Brett erlaubt war, so Schreckliches anzurichten. Zuerst weigerte er sich einfach, daran zu glauben. Erst am Tage der Beerdigung, als die erregte, verheulte Stiefmutter ihn ohrfeigte, weil er vergessen hatte, ihre Schuhe zu putzen, erst an diesem Tage begriff er, wie allein er jetzt war.
    Denn der Tag der Beerdigung war ein Sonntag.
    Erst an diesem Tage begann Timm zu weinen. Er weinte über sich
    und über den Vater und über die Welt, und unter dem Weinen hörte
    er die Stiefmutter zum erstenmal sagen: „Entschuldige, Timm, ich
    meinte es nicht so.“
    Die Stunde auf dem Friedhof war wie ein schlechter Traum, den
    man schnell vergessen möchte und von dem nur eine wirre,
    unbehagliche Erinnerung zurückbleibt. Timm haßte all die
    Menschen, die herumstanden und redeten und sangen und das
    Vaterunser beteten. Auch ärgerte und erregte ihn das schluchzende Geplapper seiner Stiefmutter, wenn jemand ihr sein
    „tiefempfundenes Beileid“ aussprach. Er wollte die Trauer um
    seinen Vater für sich allein haben. Und als die Versammlung sich
    auflöste, benutzte er die Gelegenheit, um ganz einfach
    davonzulaufen.
    Er irrte ziellos durch die Straßen, und als er am Rande des
    Stadtparks an jener Erkerwohnung vorbeikam, in der er als ganz
    kleiner Junge gelacht und „tuff, tuff, tuff, Ameerika“
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