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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Autoren: Margaux Fragoso
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wusste, dass ich sie nach der Uhrzeit fragen würde; er war nur einmal so früh zu uns gekommen, das war, als er damals all die Erinnerungsstücke abgegeben hatte. Ich hatte das Gefühl, als ginge mein böser Wunsch nun in Erfüllung, und hätte alles dafür gegeben, ihn zurücknehmen zu können. In den letzten Monaten hatte Peter regelmäßig wiederholt, es könne jeden Tag so weit sein, dass er sich das Leben nehme. Ich war immerzu besorgt und hatte das Gefühl, auf ihn aufpassen zu müssen. Aber an diesem Tag musste ich einen wichtigen Test schreiben, und eigentlich hatte ich nicht geglaubt, dass Peter es wirklich wahr machen würde. »Warum hast du ihn nicht aufgehalten, Mommy?«
    »Mir blieb keine Zeit. Er hatte es sehr eilig.«
    Ich betrachtete den Umschlag: Er wog schwer und war hinten hektisch mit Klebeband versiegelt, Peter leckte nicht gerne über die Lasche. Neben dem Umschlag lag eine braune Papiertüte mit Essen vom Chinesen, das meine Mutter uns zum Mittag besorgt hatte; bevor ich mit Peter nachmittags spazieren fuhr, aßen wir oft gemeinsam. Ich schob das Unvermeidliche hinaus und öffnete die Tüte mit dem Essen. Es roch nach Wantan-Suppe und Hummer-Reispfanne. Dann erst schnitt ich den Umschlag mit einer Schere auf, so wie Poppa es mir vor langer Zeit beigebracht hatte, weil er das Aufreißen von Umschlägen barbarisch fand. Ich zog den dicken Stapel gefalteter loser Blätter hervor. Auf dem ersten Zettel, den ich aufschlug, befand sich irgendeine merkwürdige Zeichnung; ich stellte fest, dass es eine Karte von Palisades Park war. Peter hatte auf einen leeren Parkplatz ein Auto eingezeichnet, auf das ein Pfeil wies, der drei Mal umkreist war. Als ich die anderen losen Blätter aufschlug, fiel mir ein Schlüssel in die Hand. Es war ein Zündschlüssel.
    Zitternd las ich alle zehn Abschiedsbriefe. Das war gar nicht so einfach, da Peters Handschrift undeutlicher als sonst war und die Briefe vor sonderbaren Schreibfehlern nur so wimmelten. »Jesus« schrieb er Jesis , aus »Jahre« machte er Jaare , er vergaß das »n« bei »schämen«. Mehrmals wiederholte er: »In aller Deutlichkeit: Ich habe Ricky niemals angerührt. Aber er muss selbst wissen, was er glaubt.« In jedem Brief stand ausdrücklich, dass ich mich weder an die Polizei noch an Inès wenden sollte.
    Ich rief Peter auf seinem Prepaid-Handy an; der erste von hundert Versuchen. Ich konnte damit auch nicht aufhören, als die Polizei ihn an einem nebligen Freitag fand, auf dem Rücken liegend. Bei seinem Sprung vom Felsen im Palisades Park hatte Peter sein Handy in der Tasche gehabt. Später erfuhr ich, dass es seltsamerweise immer noch funktionierte. Als ich ihn an jenem Tag anrief, klingelte es wahrscheinlich achtzig Meter tief am Fuße des Felsens vor sich hin.
    »Jetzt ist es dein Eigentum«, schrieb er. »Hol das Auto, bevor es abgeschleppt wird. Ich will nicht, dass du fürs Abschleppen auch noch bezahlen musst; es kostet über hundert Dollar, wenn es sichergestellt wird.«
    Als ich später die Daten auf den Briefen prüfte, stellte ich fest, dass sie alle unterschiedlich waren; der älteste Brief war fast ein Jahr alt. Peter musste ganz allmählich den Mut gesammelt haben, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
    ***
    Er hatte recht; als wir das Auto abholten, mein Vater und ich, beliefen sich die Gebühren fürs Abschleppen auf einhundertvierzig Dollar. Poppa fuhr mich zum Abschlepphof, der knapp fünfzig Kilometer entfernt war. Es war ein bedrückender Regentag, und Poppa, nicht mehr ans Autofahren gewöhnt, blieb mindestens fünfundzwanzig Stundenkilometer unter dem Tempolimit. Ich blickte auf den halb im Nebel ertränkten Hudson River und weinte lautlos vor mich hin, als wir auf die River Road bogen und die Häuser passierten, die mir von meinen Spazierfahrten mit Peter vertraut waren: das Lokal Riverview , der Platz mit Barnes & Noble und dem Musikgeschäft, wo ich hin und wieder CDs kaufte, das Kino, in das wir öfter gegangen waren. Bei jeder roten Ampel nutzte Poppa die Gelegenheit, mir zu sagen, ich solle mir die Nase putzen. Ich hatte sein weißes Taschentuch, nicht so tröstlich wie Papiertaschentücher, aber besser als nichts.
    Unser erstes Ziel war die Polizeiwache Palisades Park, die sich am Ende der Straße befand. Dort behauptete mein Vater, Peter sei der Halbbruder seiner Frau, und uns wurde gesagt, wo der Wagen hingebracht worden war.
    »Du musst den Wagen so schnell wie möglich verkaufen. Du hast doch gesagt, er hat dir
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