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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Autoren: Margaux Fragoso
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alles hinterlassen, oder? Alles aus seinem Zimmer, oder?« Schwach nickte ich, denn ich wusste, vorher würde Poppa keine Ruhe geben. »Weg mit den Sachen! Verkauf das, wofür du noch Geld bekommst, den Rest wirfst du in den Müll. Hast du mich gehört?«
    »Nein. Er wollte, dass ich alles behalte. Das war sein letzter Wunsch.«
    Poppa stellte den Scheibenwischer schneller; der Regen war heftiger geworden. Poppa war, soweit ich wusste, der einzige Mensch, der lieber bei Regen als bei Sonnenschein fuhr, was Peter immer verblüfft hatte. Ich schaute Poppa an; seinem Gesicht sah man langsam das Alter an, und inzwischen entging keinem Fremden mehr, wie stark wir uns ähnelten, nun, da ich erwachsen war. Mir fiel auf, wie dünn Poppa im Laufe der Jahre geworden war; seine Kleidung schien an ihm zu schlottern. Wahrscheinlich lag es daran, dass er mehr trank als aß. Ich fragte mich, wie viel er schon intus hatte und wie viel mehr es am Abend noch werden würde.
    »Ich erzähl dir mal was, Keesy. Etwas über mich. In letzter Zeit habe ich oft vom Umziehen gesprochen. Union City habe ich nie gemocht, und jetzt mag ich mein Haus auch nicht mehr. Aber der Gedanke ans Umziehen … Als junger Mann bin ich oft umgezogen. In der Armee gibt es kein festes Zuhause. Es hat mich nie gestört. Als ich aufhörte, ging ich hierhin und dorthin; eine Zeitlang wohnte ich in Harlem, in Queens, ich bin sogar noch mal kurz nach Puerto Rico zurückgezogen. Als ich jung war, besaß ich nichts, deshalb waren die Umzüge auch nie ein Problem. Aber als ich älter wurde, begann ich, Dinge anzuhäufen. Es sammelten sich Gegenstände an, die keinen unmittelbaren Nutzen hatten, sondern Symbol für etwas waren. Was sie jeweils bedeuteten, kann man nicht immer in Worte fassen. Das ist wie in diesem Lied von den Beatles There Are Places I Remember . Jedenfalls versuchte ich, so viel wie möglich loszuwerden, als wir aus der Mietwohnung auszogen. Doch ich stellte fest, dass ich mich von einigen Dingen einfach nicht trennen konnte. Da ich einen Schuppen hinterm Haus habe, dachte ich mir, ich könnte all die Dinge, von denen ich mich nicht trennen wollte, dort verstauen, wo sie niemanden stören. Die Jahre zogen ins Land, und irgendwann ging ich in den Schuppen, um nachzusehen, was ich besitze. Ich sah Romane, die ich früher gelesen hatte, einige auf Englisch, einige auf Spanisch, sogar welche auf Französisch; Lyrik von den großen Dichtern, die damals schön war, aber die ich nie wieder lesen werde, und das weiß ich auch … Schallplatten … aber ich höre Jefferson Airplane nicht mehr … viele von den Platten sind eh zerkratzt; ich habe keine Ahnung, warum ich sie aufgehoben habe. Alte Klamotten; ich habe sogar noch eine Uniform aus der Zeit bei der Armee. Briefe, unzählige Briefe und Fotos in Schuhkartons, hübsche Mädchen, die ich schwor, niemals zu vergessen, doch wenn ich sie jetzt betrachte, wenn ich die Bilder durchschaue, kann ich nur leise vor mich hin lachen … Es gibt mehrere Fotos von einem jungen Mann, er muss damals ein guter Freund gewesen sein, wir stehen Arm in Arm da, aber ich betrachte das Bild, und mein Kopf ist leer. Darauf muss ich ungefähr so alt gewesen sein wie du jetzt … zweiundzwanzig … dreiundzwanzig?«
    »Zweiundzwanzig«, sagte ich.
    »Der Regen zieht einen so runter. Sieh mal, er ist schwächer geworden. Ich mag nur den starken Regen, Regen, der richtig Kraft hat, Schauer, die alles hinwegfegen. Weißt du was? Ich glaube, wir haben uns verfahren. Ich wende mal besser.«
    Wir befanden uns auf irgendeiner Vorstadtstraße; Poppa wendete in einer Auffahrt, um zum Highway zurückzukehren. Er schaute auf den Zettel mit der Wegbeschreibung in meinen Händen und sagte: »Ach so, jetzt verstehe ich das. Der Polizist hat ja eine Klaue wie ein Arzt … Jedenfalls: In dem Schuppen war so viel Müll, Andenken von meinen Reisen, Geschenke, die mir nicht besonders gefallen hatten, von Leuten, die mir schnurzegal waren. Selbst der alte Vogelkäfig von meinem Papagei: Was habe ich mir dabei gedacht, ihn aufzuheben? Vor gut fünfzehn Jahren, als wir hierher zogen, müssen mir diese Dinge wichtig gewesen sein. Ich dachte, ich würde sie brauchen. Aber weißt du was? Ich zog in das neue Haus und brachte sie in den Schuppen, und ein paar Monate später hatte ich sie völlig vergessen. Jeden Tag bin ich morgens aufgestanden, habe eine Avocado oder ein hartgekochtes Ei gegessen, mir die Zähne geputzt, meine Krawatte umgebunden, bin zur
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