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Tausendundeine Stunde

Tausendundeine Stunde

Titel: Tausendundeine Stunde
Autoren: Christiane Suckert
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nie gespürt?“
    „Doch“, antwortet er, „aber du bist verheiratet. Und ich bin auch verheiratet.“
    Ich senke meinen Kopf: „Ich bin nur noch auf dem Papier verheiratet. Ich möchte den Zustand meiner Ehe eher als Zweck- oder Wohngemeinschaft betrachten. Und wahrscheinlich werde ich über kurz oder lang meinen Mann verlassen. Und was ist mit dir? Glücklich?“
    Anstatt mir eine Antwort zu geben, greift er unter den Tisch und fährt mit seiner Hand meine Beine entlang.
    Ich habe am gesamten Körper Gänsehaut. „Lass uns gehen“, fordere ich ihn auf.
    Nachdem er die Rechnung bezahlt hat, hilft er mir in den Mantel und fragt: „Bist du mit dem Auto da?“
    „Nein“, antworte ich. „Fährst du mich nach Hause?“
    „Gern“, entgegnet er. „Wo wohnst du?“
    Ich erkläre ihm den Weg.
    Kurz vor unserem Haus sage ich: „Biege rechts ab und dann fahre geradeaus weiter.“
    „Hier gibt es keine Häuser mehr, Juliane.“
    „Ich weiß“, entgegne ich und ziehe ihn an mich heran.
    Wir küssen uns leidenschaftlich und ehe ich gänzlich die Kontrolle über mich verliere, bitte ich ihn, mich nach Hause zu fahren.
    Beim Aussteigen sage ich: „Du hast mir keine Antwort auf meine Frage gegeben. Bist du glücklich verheiratet?“ Auch diesmal erhalte ich keine Antwort, nur ein Lächeln, das ich nicht einordnen kann. Ein bisschen Wehmut steckt darin und zugleich ein wenig Belustigung.
    Ehe ich die Haustür aufschließe, lehne ich mich mit dem Rücken an die Tür. Noch immer schmecke ich seinen Kuss. Ich fühle einen wohligen Schauer in meinem Schoß.
    Georg sieht fern.
    „Abend“, rufe ich im Vorbeigehen. Komisch, ich habe kein schlechtes Gewissen.
    Ich vermeide es, Bennet über den Weg zu laufen. Soweit es geht, gebe ich meine Artikel im Sekretariat ab. Ich ahne, dass dieser Mann in mir eine Leidenschaft entfachen wird, an der ich vermutlich zu Grunde gehe. Ich konzentrierte mich auf meine Kinder. Die Jungs sind in einem schwierigen Alter, in dem sie nicht wissen, ob sie nun Fisch oder Fleisch sind.
    „Wo gibt es denn so etwas?“, höre ich Georg schon von Weitem brüllen. „Solange ihr die Beine unter meinen Tisch streckt, läuft es hier nach meinen Spielregeln!“ Seine Stimme klingt aufgebracht. Diesen Satz hatte ich mehr als einmal von meinem Vater gehört und ich ärgere mich.
    Was ist denn heute bei Leonhardts los?“; frage ich bewusst fröhlich, um die Spannung zu beseitigen.
    „Ach, die Jungs wollen nicht mit nach Mecklenburg fahren“, grollt er, „sondern lieber zu Hause bleiben.“
    „Aha“, sage ich und lege meine Hand auf Georgs Schulter.
    „Ich glaube, dass die Jungs alt genug sind, um das Wochenende allein zu bleiben. Nun lass sie schon hier.“
    Zähneknirschend willigt Georg ein.
     
    Von unserem Besuch zurückgekehrt, schallt uns aus Pauls Zimmer laute Musik entgegen. „Berlin, Berlin – die Mauer muss weg!“ Georg springt aus dem Trabi und erklimmt die Stufen zu Pauls Zimmer wie beim Endspurt eines Hundert-Meter-Laufs. „Mach das aus, du …“, schreit er Paul an. Dann reißt er die Kassette aus dem Rekorder und zerstampfte sie mit dem Fuß. Danach läuft er puderrot an, als Stefan das Zimmer betritt. Stefan hat sich den Schädel kahl rasiert, nur in der Mitte seines Kopfes ragen ein paar grün und rot eingefärbte Haarbüschel in die Höhe. Mit der Wucht seines ganzen Körpers schlägt Georg auf Stefan ein. Und auch ich erhalte Hiebe, weil ich mich dazwischen werfe. Stefan verliert keine Träne, er sieht Georg hasserfüllt an und verlässt das Zimmer. Erst in seinem Zimmer weint er. Ich drückte ihn an meine Brust, an der er lange und laut schluchzt. Paul ist ohne Schläge davon gekommen. Allerdings ist die Tonbandkassette geborgt und nun weiß er nicht, wie er seinem Freund beibringen soll, dass sie Georg in rasender Wut zertreten hat. Und das wiegt schwerer als Schläge. Auch ich bin nicht glücklich darüber, dass Paul die Siedlung ausgerechnet mit so einer Musik beschallt und Stefan als Punk durch die Gegend zieht. Aber ich versuche mit den Jungs darüber zu reden. Das fällt mir schwer. Denn nach meiner inneren Überzeugung halte ich es für richtig, dass die jungen Leute sich ausprobieren. Haben sie nicht ein Recht darauf? Ist es nicht besser, sie erhalten die Möglichkeit, offen ihre Einstellung zu zeigen. Nur so können sie Rückgrat erlangen. So aber breche ich es ihnen, appelliere an ihren Verstand und bitte sie, Rücksicht zu nehmen auf die Funktion von
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