Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
Autoren: Wolfgang Koeppen
Vom Netzwerk:
verkaufen hatten. Auch Doktor Behude brauchte die zehn Mark, aberes war nicht nur der Betrag, Blut gegen Geld, der ihn zu diesem Handel veranlaßte. Doktor Behude kasteite sich. Es war eine mönchische Geißelung, der er sich unterzog, und die Blutentnahme war ein Versuch, wie die Hanteln, die Morgenläufe, die Rumpfbeugen, die Atemübungen, ein Gleichgewicht herzustellen zwischen den Kräften und Forderungen des Körpers und der Seele. Doktor Behude analysierte sich, während er auf dem kühlen Wachstuch des Transfusionstisches lag. Er war kein Wohltäter, kein Spender; das Blut löste sich von ihm ab, wurde ein Medikament wie andere, man konnte es verschicken, konnte damit handeln, Leben retten, es berührte Doktor Behude nicht; er reinigte sich, er bereitete sich vor. Bald werden sich die Räume seiner Praxis füllen, werden sich mit Leuten füllen, die Kraft und Lebensmut von ihm zapfen wollen. Die Schar der Halbverrückten liebt und bedrängt den Doktor Behude, die Neurotiker, die Lügner, die nicht wissen, warum sie lügen, die Impotenten, die Schwulen, die Paidophilen, die sich in Kinder vergaffen, kurzen Röckchen folgen, nackten Beinen, die Literaten, die zwischen allen Stühlen sitzen, die Maler, denen die Farben des Lebens zu geometrischen Strichen zusammenfließen, Schauspieler, die an toten Worten ersticken, Pan war tot, zum zweiten Mal gestorben, sie alle kamen, die ihre Komplexe brauchten wie ihr tägliches Brot, die Geängstigten und Untüchtigen, zu untüchtig auch, sich in eine Krankenkasse einzukaufen oder je eine Rechnung zu bezahlen. -
    Sie hatten ihr Leben gerettet, ein nutzloses Dasein, sie hausten verbittert in den Flecken, auf Alm und Au, in Hütten und auf den Höfen, der Rauch verzog sich, sie lauschten den Baggern, die in die Trümmer griffen, lauschten von fern, ausgesperrt von Ninive, von Babylon, Sodom, den geliebten Städten, den großen wärmenden Kesseln, Geflohene, zur Sommerfrische verdammt, Touristen, die nicht zahlen konnten, scheel angesehen beim Landvolk, heimwehtollnach den Steinen. Sie kehrten heim, die Schranke hob sich, die verhaßte Verordnung der Zuzugssperre fiel, aufgehoben war die Ausstoßung, sie strömten zurück, sie fluteten ein, der Pegel stieg STADT BRENNPUNKT DES WOHNUNGSBEDARFS . Sie waren wieder zu Hause, reihten sich ein, rieben sich aneinander, übervorteilten einander, handelten, schufen, bauten, gründeten, zeugten, saßen in der alten Kneipe, atmeten den vertrauten Brodem, beobachteten das Revier, den Paarungsplatz, den Nachwuchs der Asphaltgassen, Gelächter und Zank und das Radio der Nachbarn, sie starben im städtischen Krankenhaus, wurden vom Bestattungsamt hinausgefahren, lagen auf dem Friedhof an der Ost-Süd-Kreuzung, von Straßenbahnen umbimmelt, benzindunstumschwelt, glücklich in der Heimat. SUPERBOMBER IN EUROPA STATIONIERT .
    Odysseus Cotton verließ den Bahnhof. Am schlenkernden Arm, in der braunen Hand baumelte ein Köfferchen. Odysseus Cotton war nicht allein. Eine Stimme begleitete ihn. Aus dem Koffer kam die Stimme, sanft, warm, weich, eine tiefe Stimme, wohlige Atmung, ein Hauch wie Samt, heiße Haut unter einer alten zerrissenen Autodecke in einer Wellblechhütte, Schreie, Brüllen der Riesenfrösche, Nacht am Mississippi. Richter Lynch reitet über Land, o Tag von Gettysburg, Lincoln zieht in Richmond ein, vergessen das Sklavenschiff, ewig das Brandmal ins Fleisch gesengt, Afrika, verlorene Erde, das Dickicht der Wälder, Stimme einer Negerin. Die Stimme sang Night-and-day, sie schirmte mit ihrem Klang den Kofferträger gegen den Platz vor dem Bahnhof, umschlang ihn wie Glieder der Liebenden, wärmte ihn in der Fremde, zeltete ihn ein. Odysseus Cotton stand unschlüssig. Er schaute über die Taxistände, blickte zum Warenhaus Röhn hinüber, sah Kinder, Frauen, Männer, die Deutschen, wer waren sie? was dachten sie? wie träumten und liebten sie? Waren sie Freunde? Feinde?
    Die schwere Tür der Telefonzelle schlug hinter Philipp zu. Das Glas isolierte ihn von dem Treiben auf dem Bahnhofsplatz, der Lärm war nur noch ein Rauschen, der Verkehr ein Schattenspiel auf den geriffelten Flächen der Wände. Philipp wußte noch immer nicht, wie er den Tag verbringen sollte. Die Stunde gähnte. Er fühlte sich wie eine der leeren Packungen, die der Besen zum Kehricht gefegt hatte, nutzlos, seiner Bestimmung beraubt. Welcher Bestimmung? War er zu etwas bestimmt gewesen, hatte er sich dieser Bestimmung entzogen, und konnte man sich überhaupt,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher