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Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras

Titel: Tauben im Gras - Koeppen, W: Tauben im Gras
Autoren: Wolfgang Koeppen
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Gefährlich war das Leben, voll Fallgruben der Weg der Anständigen. Das Schicksal griff nicht nur nach Hannelore. Aber im letzten Kapitel triumphieren die Guten.
    Philipp kam mit der Zeit nicht zurecht. Der Augenblick war wie ein lebendes Bild, der possierliche Gegenstand einer Erstarrung, das Dasein in Gips gegossen, ein Rauch, der Husten hervorrief, umschwebte es wie eine karikierende Arabeske, und Philipp war ein kleiner junge im Kieler Anzug, S. M. SCHIFF GRILLE auf dem Mützen band, und er saß in einer Kleinstadt auf einem Stuhl im Deutschen Saal, und die Damen des Luisenvereins führten auf der Bühne in einer Waldkulisse Bilder aus der vaterländischen Geschichte vor, Germania und ihre Kinder, das liebte man damals, oder man gab vor, es zu lieben, die Tochter des Rektors hielt die Pfanne mit dem brennenden Pech, das der Szene wohl etwas Feierliches, Dauerndes, dem Tag Entrücktes geben sollte. Die Tochter des Rektors war schon lange tot. Eva, er hatte ihr Kletten ins Haar geworfen. Die Jungens waren tot, alle, die neben ihm auf den Stühlen des Deutschen Saales gesessenhatten. Die Stadt war eine tote Stadt wie so viele Städte im Osten, eine Stadt irgendwo in Masuren, doch man konnte nicht mehr zum Bahnhof gehen und eine Fahrkarte nach diesem Ort verlangen. Die Stadt war ausgelöscht. Merkwürdig: niemand war auf der Straße. Die Klassenzimmer des Gymnasiums waren stumm und leer. In den Fenstern nisteten die Krähen. Das hatte er geträumt, das hatte er in den Schulstunden geträumt: das Leben war in der Stadt gestorben, die Häuser waren leer, die Straßen, der Markt stumm und leer, und er, als einziger übriggeblieben, war mit einem der verlassen am Straßenrand stehen gebliebenen Autos allein durch die tote Stadt gefahren. Die Dekoration des Traums war ins Leben gestellt, aber Philipp agierte nicht mehr auf dieser Bühne. Litt er, wenn er an die Toten dachte, an die toten Stätten, die verscharrten Gefährten? Nein. Die Empfindung versteifte sich wie vor den lebenden Bildern des Luisenvereins, die Vorstellung war irgendwie pompös, traurig und abscheulich, eine Siegesallee aus Stuck und gestanztem Lorbeer, aber vor allem war sie langweilig. Zugleich aber raste dieselbe Zeit, die doch wiederum stillstand und das jetzt war, dieser Augenblick von schier ewiger Dauer, flog dahin, wenn man die Zeit als die Summe aller Tage betrachtete, den Ablauf aus Licht und Dunkel, der uns auf Erden gegeben ist, glich dem Wind, war etwas und nichts, meßbar durch List, aber niemand konnte sagen, was er da maß, es umströmte die Haut, formte den Menschen und entfloh ungreifbar, unhaltbar: woher? wohin? Aber er, Philipp, stand noch dazu außerhalb dieses Ablaufs der Zeit, nicht eigentlich ausgestoßen aus dem Strom, sondern ursprünglich auf einen Posten gerufen, einen ehrenvollen Posten vielleicht, weil er alles beobachten sollte, aber das Dumme war, daß ihm schwindlig wurde und daß er gar nichts beobachten konnte, schließlich nur ein Wogen sah, in dem einige Jahreszahlen wie Signale aufleuchteten, schon nicht mehr natürliche Zeichen, künstlich listig errichtete Bojen in der Zeitsee, schwankendes Menschenmal auf den ungebändigten Wellen, aber zuweilen erstarrte das Meer und aus dem Wasser der Unendlichkeit hob sich ein gefrorenes, nichtssagendes, dem Gelächter schon überantwortetes Bild.
    In die Engellichtspiele kann man schon am Morgen vor dem Licht des Tages fliehen. Der letzte Bandit ist ein Kassenschlager. Der Lichtspielbesitzer telegrafiert die Besucherzahl an den Filmverleiher. Hausrekord, Zahlenakrobatik wie einst die Sondermeldung BRUTTOREGISTERTONNEN VERSENKT . Wiggerl, Schorschi, Bene, Kare und Sepp standen unter dem Lautsprecher, standen unter der Kaskade von Worten, Sieg und Fanfaren, kleine Hitlerjungen, Pimpfsoldaten, braunes Hemd, kurze Hosen, nackte Schenkel. Sie schüttelten die Sammelbüchsen, rüttelten die Groschen wach, klapperten mit den Abzeichen aus Blech. »Für die Winterhilfe! Für die Front! Für den Führer!« In der Nacht heulte die Sirene. Die Flak schwieg. Jetzt flogen die Jäger auf Jagd. Brillanten zum Ritterkreuz. Minen. Das Licht flackerte. Duck dich! In den Kellerrohren rauschte das Wasser. Im Nebenhaus sind sie ersoffen. Alle sind sie im Keller ersoffen. Schorschi, Bene, Kare und Sepp sitzen vor dem letzten Banditen. Tief graben sich ihre harten Hintern in die ausgewurzten kuhligen Polster des Kinogestühls. Sie haben keine Lehrstelle und keine Arbeit. Sie haben kein Geld, aber
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