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Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main
Autoren: Wilhelm Genazino
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ereignete sich an einem Spätnachmittag im Sekretariat. Ein Joint machte die Runde, die Stimmung war wieder mal gut. Plötzlich öffnete ein Redakteur die Fenster; er und der eine und andere Kollege warfen die von uns geschmähten »Schmunzelbücher« zum Fenster hinaus. Wenn ich mich recht erinnere, schreckte ich vor diesem Ausdruck der Herabsetzung zurück. Hatte es das schon einmal gegeben: Angestellte eines Verlags warfen die Produkte des Verlags zum Fenster hinaus? Ich hatte Frau und Kind und konnte mir eine fristlose Entlassung nicht leisten.
    Es geschah zunächst nichts. Wir bereiteten das nächste Heft vor, wenn auch in der inzwischen zur Routine gewordenen Verweigerungshaltung. Dann traf der Gegenschlag ein. Einer größeren Anzahl von Redakteuren – unter ihnen ich selber – wurde gekündigt. Oder wurde dem einen und anderen die Probezeit nicht verlängert? Ich weiß es nicht mehr. Auf gut Deutsch: Ich war rausgeschmissen worden. Ab sofort stand ich auf der Straße, zum ersten Mal in meinem Berufsleben, und das in Frankfurt, wo der Arbeitsmarkt für Journalisten nicht eben günstig war. Ich würde mich auch bei Zeitungen in anderen Großstädten bewerben müssen, wozu ich keine Lust hatte. Ich wollte Frankfurt nicht verlassen, mehr noch: Ich wollte auch in der Nähe meiner Kollegen bleiben. Mein Ruf als Jungschriftsteller war lange verblasst. Es gab von mir einen einzigen Roman, der 1965 erschienen und ohnehin kaum beachtet worden war. Dennoch wurde aus dem Rausschmiss bei Bärmeier & Nikel der Auftakt eines neuen Schriftstellerlebens. Der Neubeginn war anders, als ich mir jemals den Anfang eines Autorenlebens vorgestellt hatte. Ich tat mich zusammen mit Peter Knorr, einem Redaktionskollegen, der die pardon -Redaktion ebenfalls verlassen hatte, allerdings freiwillig. Auch Peter Knorr wollte nicht Tag für Tag als Solist in einem Kämmerchen sitzen und Werke verfassen. Wir hatten als Kollegen gut zusammengearbeitet und glaubten, dass wir auch als freie Schriftsteller gemeinsam besser vorankommen würden. So war es dann auch. Peter Knorr hatte Anfangskontakte zum Hessischen Rundfunk, der für etliche Jahre unser Hauptabnehmer wurde. Wir schrieben satirische, kabarettartige Dialoge, unterhaltende Hörspiele und Features über politisch und gesellschaftlich relevante Themen. Ich war dankbar, dass auf diese Weise die Folgen des Rauswurfs abgefedert werden konnten. Außerdem war ich froh, dass ich eine Arbeitsmöglichkeit gefunden hatte, ohne ein neues Angestelltenverhältnis eingehen zu müssen. Mit den Jahren zeigte sich, dass ich nicht nur Radioautor sein wollte. Auf diese schleichende, aus den Umständen hervorgehende Art war ich »freier« Schriftsteller geworden. Ich war Schriftsteller auf der Basis eines gehörigen Misstrauens in die »Verhältnisse«. Immer wieder dachte ich darüber nach, wie ich meine ungesicherte Lage stabiler machen konnte. Ich hatte eine Idee, die mich noch tiefer in die Unstabilität hineinstieß: Ich wollte schöngeistige Bücher schreiben, Romane, Erzählungen, Stücke.
    Aber worüber sollte ich schreiben? Bis tief in die siebziger Jahre hinein herrschte auf dem belletristischen Buchmarkt ein Thema: Die Lage der Arbeiterklasse im Spätkapitalismus. Das Thema war ein Übrigbleibsel der 68er Studentenunruhen. Eines der Ergebnisse dieser Unruhen war die Entdeckung, dass der Arbeiter ein unbekanntes Wesen war, für das sich niemand wirklich interessierte, auch heute nicht. Das sollte anders werden! Tatsächlich produzierten die Verlage in den folgenden Jahren zahllose antikapitalistische Schriften, Reportagen und Untersuchungen über die verborgen lebenden Arbeiter. Auch ich überlegte eine Weile, einen Arbeiterroman zu schreiben. Als Vorbild für die Figur des ratlosen, überforderten, kleinlauten Arbeiters hätte mir mein Vater sehr gut dienen können. Er war ein typischer Nachkriegsdarsteller seiner Klasse, durch den Krieg lebenslang verängstigt und anpassungsbereit. Ich hatte seine Existenz seit Jahren aus der Nähe beobachtet und war über dieses Leben oft verwundert, erstaunt, verwirrt. Über das damals verbreitete Klischee des geduckten Arbeiters hinaus war er ein schwer fassbares Neutrum. Er war ohne Bildung, aber auch ohne Bildungsdrang. Er ging nicht ins Kino, erst recht nicht ins Theater, er schaute sich keine Ausstellungen an. Er verdiente zu wenig Geld und litt an seiner zu groß geratenen Familie. Er sah oft so aus, als wüsste er nicht, wen er für seine
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