Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tarzan am Main

Tarzan am Main

Titel: Tarzan am Main
Autoren: Wilhelm Genazino
Vom Netzwerk:
Bankenviertel zum Zentrum zählen soll oder nicht. Das Problem ist: Das Bankenviertel beeindruckt nur von oben. Zwischen den Türmen selber ist nichts los. Sie stehen blank nebeneinander, vor den Eingängen befinden sich sauber gefegte Kleinplätze, wir sehen Pförtner und anderes Bewachungspersonal. Von der Europäischen Zentralbank zur Commerzbank braucht der Fußgänger zwei Minuten. Von der Commerzbank zur Deka-Bank sind es sechs Minuten. Von der Deka-Bank zur Deutschen Bank reichen drei Minuten. Touristen sieht man hier nicht, worüber sich niemand wundert. Der Grund ist banal: Es gibt hier nichts zu sehen, wovon man später erzählen könnte. Es sei denn, der Tourist kommt ein bisschen vom Weg ab und lässt sich – jenseits der Weserstraße in Richtung Hauptbahnhof – in das nur ein paar Meter daneben liegende Rotlicht-Viertel hineintreiben.
    Aber das Rotlicht-Viertel ist nicht mehr, was es früher war. Im Grunde ist das Wort Rotlicht-Viertel eine Übertreibung aus alten Zeiten. Man findet das Wort nur noch in ahnungslosen Stadtführern, verfasst von ahnungslosen Leuten, die nie hier waren. In den siebziger Jahren, als noch niemand das Wort Bankenviertel kannte, war das noch anders. Damals gab es hier zahllose heruntergekommene Altbauten. Die Erdgeschosse waren leergeräumt für Stehbordelle, weil die sogenannte Straßenprostitution eigentlich verboten war. Freilich hielt sich niemand an dieses Verbot. Huren standen in großer Zahl an den Straßenecken oder fuhren in silbrigen Coupés im Viertel umher, um die sowieso schon schnelle Geschlechtlichkeit noch schneller im Auto zu erledigen und der Scham fast spurlos zu entkommen.
    Ich erinnere mich gut an diese Jahre, als besorgte Stimmen die Banken davor warnten, in diesem Milieu zu bauen. Die Leute stellten sich tatsächlich vor, dass der Ruf der Banken durch das Hintertreppenmilieu Schaden nehmen könnte. Das Gegenteil trat ein. Über Jahre hin hatten sich die Stadtväter den Kopf zerbrochen, wie man den Sumpf des Bahnhofsviertels trockenlegen könne – ohne Erfolg. Es musste buchstäblich die alles beiseiteräumende Expansion der Banken eintreten, um das Beischlafgewerbe mehr und mehr in die Schranken zu weisen. Da und dort gibt es zwar immer noch kleine Bordelle. Manchmal huscht eine Prostituierte über die Straße, um sich im Obstladen gegenüber ein paar Orangen zu kaufen – aber sonst ist das Viertel nahezu aseptisch geworden. Auf den Plätzen vor den Banken warten keine Prostituierten. Sextouristen verirren sich nicht mehr in diese Gegend. Die Portiers vor den Drehtüren der Banken werden nicht als Sehenswürdigkeiten empfunden. Insofern muss man sagen: Die Gegend wird zwar von Jahr zu Jahr sauberer, aber attraktiv ist sie nicht mehr. In den siebziger und achtziger Jahren fluteten Nachmittag für Nachmittag tausende von unruhigen Männern durch die Straßen. Sie schauten in hunderte von Zimmern, ehe sie sich endlich für eine Dame entschieden. Dieser stundenlange innere Aufschub war das eigentliche »Erlebnis«. Vorbei! Die Zeiten, als das Bahnhofsviertel mit Hamburger oder Amsterdamer Verhältnissen verglichen wurde, sind nicht mehr.
    Man muss anerkennen, dass Frankfurt in den vergangenen zwanzig Jahren eine Art Bedeutungsverlust hat verkraften müssen. Der Beginn der Verschiebung lässt sich datieren: Es war (ist) der Herbst 1989, das Datum der deutschen Wiedervereinigung. Von diesem Zeitpunkt an haben sich die Gewichte verlagert. Bis zur Wiedervereinigung war Frankfurt ein auffälliger Glanzpunkt im kleinen Westdeutschland. Sein Standort war zentraleuropäisch und wurde auch so wahrgenommen. Als die Bundesbahn, zusammen mit den französischen Eisenbahnen, eine neue Schnellbahnverbindung Frankfurt-Paris einrichtete, erschien Frankfurt plötzlich gleichrangig mit Paris. Nicht wenige Beobachter rieben sich die Augen. Trotzdem war die Aufwertung in Ordnung. Natürlich konnte Frankfurt nicht mit den Pariser Reizen konkurrieren, aber diese Konkurrenz war auch nicht gemeint. Sondern diese: Frankfurt beeindruckte den Rest der Republik mit seiner furchteinflößenden wirtschaftlichen Potenz. Man konnte jetzt in den Zeitungen lesen, dass der Frankfurter Kulturetat höher war als der Pariser Etat. Die Wiedervereinigung hat diesen Taumel beendet. Die Blicke richten sich heute nach Berlin. Nach Berlin kommt lange nichts. Jetzt läuft Frankfurt in seinem zu groß geratenen Anzug herum und will nicht recht wahrhaben, dass es heimlich herabgestuft wurde und dass es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher