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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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sortiert und zu Häufchen zusammengelegt. Dann war sie mal eine Stunde lang still.«
    II
    Ich habe Tante Annie und Tante Lou besucht. Ich war jetzt zum dritten Mal bei ihnen, seit ich nach Hause gekommen bin, und jedes Mal haben sie den Nachmittag damit verbracht, Teppiche aus gefärbten Lumpen anzufertigen. Sie sind jetzt sehr alt. Sie sitzen auf einer heißen kleinen Veranda, der Bambusjalousien Schatten spenden; die Lumpen und die halbfertigen Teppichebilden eine anheimelnde häusliche Unordnung um sie. Sie gehen nicht mehr aus dem Haus, aber sie stehen morgens früh auf, waschen und pudern sich und ziehen ihre formlosen geblümten, mit Zackenlitze und weißer Borte besetzten Kleider an. Sie kochen sich Kaffee und Porridge, und dann machen sie das Haus sauber, wobei Tante Annie oben arbeitet und Tante Lou unten. Ihr Haus ist sehr sauber, dunkel und poliert, und es riecht nach Essig und Äpfeln. Am Nachmittag legen sie sich eine Stunde lang hin, dann ziehen sie ihre Nachmittagskleider mit einer Brosche am Hals an und setzen sich zur Handarbeit hin.
    Sie gehören zu den Frauen, deren Fleisch im Alter schmilzt oder auf geheimnisvolle Weise verschwindet. Tante Lous Haare sind immer noch schwarz, aber sie sehen steif und trocken aus wie die Grannen einer reifen Ähre. Sie sitzt gerade und bewegt ihre knochendünnen Arme mit sehr feinen und langsamen Bewegungen; mit ihrem langen Hals, dem kleinen scharfen Gesicht und der stark verrunzelten und stark gedunkelten Haut sieht sie aus wie eine Ägypterin. Tante Annie wirkt, vielleicht wegen ihrer sanfteren, sogar koketten Art, auf menschlichere Art gebrechlich und verbraucht. Sie hat fast keine Haare mehr und trägt ständig eine jener hübschen Hauben, gedacht für junge Frauen, die mit Lockenwicklern zu Bett gehen. Sie lenkt meine Aufmerksamkeit darauf und fragt, ob ichsie nicht kleidsam finde. Beide Tanten beherrschen diese kleinen Ironien und genießen es, auf alles hinzuweisen, was an ihnen grotesk ist. Ihre Gesellschaftsmanieren sind außerordentlich heiter, und ihre Gespräche untereinander bilden ein perfektes Muster aus Neckerei und Protest. Ich habe eine faszinierende Vision von Maddy und mir im Alter, wieder eingesponnen in das Geschwisternetz, nachdem alles andere verschwunden ist, wie wir für eine junge, liebe und eigentlich unwichtige Verwandte Tee zubereiten – und eine ebenso glatt polierte Beziehung vorweisen; was wird man je von uns wissen? Während ich meine unterhaltsamen alten Tanten betrachte, frage ich mich, ob alte Leute uns solche stilisierten und vereinfachten Rollen vorspielen, weil sie befürchten, dass irgendetwas Ehrlicheres unsere Geduld überfordern könnte; oder ob sie es aus Feingefühl tun, um die Zeit mit uns herumzubringen, während sie sich in Wahrheit so fern von uns fühlen, dass sie gar nicht mit uns kommunizieren können.
    Jedenfalls fühlte ich mich von ihnen auf Distanz gehalten, wenigstens bis zu diesem dritten Nachmittag, wo sie vor mir Anzeichen einer Meinungsverschiedenheit zeigten. Ich glaube, es war das erste Mal, dass so etwas passierte. Bestimmt sah ich sie in all den Jahren, als Maddy und ich sie besuchten, nie streiten, und wir besuchten sie oft – nicht nur aus Pflichtbewusstsein,sondern weil wir die Atmosphäre von sinnvoller Geschäftigkeit nach der Anarchie, dem ständig drohenden Melodrama unseres Zuhauses beruhigend fanden.
    Tante Annie wollte mit mir nach oben gehen, um mir etwas zu zeigen. Tante Lou war nicht damit einverstanden, sah abweisend und gekränkt aus, als wäre ihr das ganze Thema peinlich. Und so stark ist das Gefühl von Diskretion, die Tradition der Umschweife in diesem Haus, dass es für mich undenkbar war, die beiden zu fragen, wovon sie redeten.
    »Ach, lass sie ihren Tee trinken«, sagte Tante Lou, und Tante Annie sagte: »Gut. Dann, wenn sie ihren Tee getrunken hat.«
    »Mach doch, was du willst. Oben ist es heiß.«
    »Kommst du mit rauf, Lou?«
    »Und wer passt dann auf die Kinder auf?«
    »Ach, die Kinder. Hab ich nicht dran gedacht.«
    Also zogen Tante Annie und ich uns in die dunkleren Teile des Hauses zurück. Mir kam der absurde Gedanke, dass sie mir einen Fünf-Dollar-Schein geben wollte. Ich erinnerte mich daran, dass sie mich früher manchmal ebenso geheimnistuerisch in die vordere Diele gezogen und ihr Portemonnaie geöffnet hatte. Ich glaube, dass Tante Lou auch damals nicht eingeweiht war. Aber wir gingen nach oben und in Tante Annies Schlafzimmer, das so reinlich und
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