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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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jungfräulich war, mit schüchtern geblümter Tapete und weißenTischläufern auf den Kommoden. Es war wirklich sehr heiß, wie Tante Lou gesagt hatte.
    »So«, sagte Tante Annie ein wenig atemlos. »Hol mir den Karton auf dem obersten Brett im Schrank herunter.«
    Ich tat es, sie machte ihn auf und sagte mit ihrer sehnsüchtigen Verschwörer-Fröhlichkeit: »Du hast dich doch wahrscheinlich schon gewundert, was aus der Kleidung deiner Mutter geworden ist?«
    Ich hatte nicht darüber nachgedacht. Ich setzte mich aufs Bett, wobei ich vergaß, dass in diesem Haus die Betten nicht zum Sitzen da waren; dafür gab es in jedem Schlafzimmer einen Stuhl. Tante Annie korrigierte mich nicht. Sie nahm Sachen aus dem Karton und sagte: »Maddy hat nie davon gesprochen, oder?«
    »Ich habe sie nie danach gefragt«, sagte ich.
    »Nein. Würde ich auch nicht. Ich würde zu Maddy kein Wort davon sagen. Aber ich dachte, dir kann ich sie zeigen. Warum nicht? Schau mal«, sagte sie. »Wir haben das, was wir konnten, gewaschen und gebügelt, und das Übrige in die Reinigung gebracht. Ich habe die Reinigung selbst bezahlt. Dann haben wir da, wo’s notwendig war, ausgebessert. Es ist alles in gutem Zustand, siehst du?«
    Ich sah hilflos zu, während sie mir zur Prüfung die Unterwäsche vorhielt, die zuoberst lag. Sie zeigte mir, wo sie die Sachen fachgerecht geflickt und gestopfthatten und wo sie ein neues Gummiband eingezogen hatten. Sie zeigte mir einen Schlüpfer, der nur einmal getragen worden war, sagte sie, nur einmal. Sie nahm Nachthemden heraus, einen Morgenmantel, gestrickte Bettjäckchen. »Das hatte sie an, als ich sie das letzte Mal gesehen habe«, sagte sie. »Meine ich wenigstens. Doch, ja.« Ich erkannte beklommen das pfirsichfarbene Bettjäckchen wieder, das ich ihr zu Weihnachten geschickt hatte.
    »Du siehst ja, es ist kaum getragen. So gut wie ungetragen.«
    »Ja«, sagte ich.
    »Darunter sind ihre Kleider.« Ihre Hände gruben sich durch die glitzernden und geblümten Seidenstoffe, mit denen sich meine Mutter kostümieren wollte und die von Jahr zu Jahr exotischer wurden. Beim Gedanken an sie in diesen Pfauenfarben schien sogar Tante Annie zurückzuschrecken. Sie zog eine Bluse heraus. »Die habe ich von Hand gewaschen, sieht aus wie neu. Da hängt noch ein Mantel im Schrank. Völlig in Ordnung. Sie trug nie einen Mantel. Sie zog ihn nur an, wenn sie ins Krankenhaus musste, sonst nicht. Passt dir der nicht?«
    »Nein«, sagte ich. »Nein«. Denn Tante Annie ging schon zum Schrank. »Ich habe mir gerade einen neuen Mantel gekauft. Ich habe mehrere Mäntel. Tante Annie!«
    »Aber warum sollst du dir was kaufen«, fuhr Tante Annie auf ihre sanfte, sture Art fort, »wenn es hier Dinge gibt, die so gut wie neu sind?«
    »Ich kaufe sie lieber«, sagte ich und bedauerte sofort die Kälte in meiner Stimme. Trotzdem fuhr ich fort: »Wenn ich etwas brauche, dann gehe ich hin und kaufe es.« Dieser Hinweis darauf, dass ich nicht mehr arm war, rief Vorwurf und Befremden auf das Gesicht meiner Tante. Sie sagte nichts. Ich ging und betrachtete ein Foto von Tante Annie, Tante Lou, ihren älteren Brüdern, ihrer Mutter und ihrem Vater, das über dem Schreibtisch hing. Sie sahen mich mit ernsten, anklagenden protestantischen Gesichtern an, denn ich hatte gegen den schlichten, unerquicklichen Materialismus verstoßen, auf dem ihr Leben gründete. Dinge mussten benutzt werden; alles musste verbraucht werden, musste bewahrt, repariert, zu etwas anderem gemacht und wieder benutzt werden. Kleidungsstücke mussten getragen werden. Ich spürte, dass ich Tante Annies Gefühle verletzt hatte, und darüber hinaus hatte ich wahrscheinlich eine Voraussage von Tante Lou bestätigt, denn die war empfänglich für bestimmte Lebenseinstellungen, die für Tante Annie zu überkandidelt waren, um sich damit abzugeben, und hatte höchstwahrscheinlich gesagt, dass ich die Sachen meiner Mutter nicht würde tragen wollen.
    »Sie war früher dahin, als wir alle gedacht haben«, sagte Tante Annie. Ich drehte mich überrascht um, und sie fügte hinzu: »Deine Mutter.« Da fragte ich mich, ob die Kleidungsstücke wirklich die Hauptsache gewesen waren; vielleicht hatten sie nur als Einleitung für ein Gespräch über den Tod meiner Mutter dienen sollen, das Tante Annie als notwendigen Bestandteil meines Besuchs empfinden mochte. Tante Lou würde anders empfinden; sie hegte eine fast abergläubische Abneigung gegen bestimmte Rituale der Gefühlsäußerung; solch
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