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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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weiter sagen als: Wird Ihnen denn das nicht zu viel Mühe machen, jetzt ? Wobei das jetzt mit einer ganzen Reihe von Mühsalen beladen ist, man kann es sich aussuchen. Jetzt, wo Miss Marsalles aus dem Fachwerkbungalow in der Bank Street, in dem die letzten drei Feste schon sehr beengt waren, in ein noch kleineres Haus – wenn ihre Angaben stimmen – in der Bala Street umgezogen ist. (Bala Street, wo ist die denn?) Oder: Jetzt, wo Miss Marsalles’ ältere Schwester nach einem Schlaganfall bettlägerig ist; jetzt, wo Miss Marsalles selbst – laut meiner Mutter muss man diesen Dingen ins Auge sehen – einfach zu alt dafür wird.
    Jetzt?, fragt Miss Marsalles pikiert und täuscht Unverständnis vor, aber vielleicht ist es ja auch echt. Und sie fragt, wie ihr das Juni-Fest denn je, zu irgendeinerZeit, an irgendeinem Ort, zu viel Mühe machen kann? Es ist die einzige Gesellschaft, die sie noch gibt (soweit meine Mutter weiß, ist es die einzige Gesellschaft, die sie je gegeben hat, aber Miss Marsalles’ heitere alte Stimme, unverzagt, von unermüdlicher Gastfreundlichkeit, beschwört die Geister von Teegesellschaften, Tanzabenden, Empfängen und gigantischen Familienfestessen). Ihre Enttäuschung, sagt sie, würde ebenso groß sein wie die der Kinder, wenn sie das aufgeben müsste. Wesentlich größer, sagt meine Mutter zu sich selbst, aber das kann sie natürlich nicht laut sagen; sie wendet ihr Gesicht vom Telefon ab, mit jenem Ausdruck von Verärgerung – als hätte sie einen Schmutzfleck entdeckt, den sie nicht beseitigen kann –, der ihr privater Ausdruck von Mitleid ist. Und sie verspricht zu kommen; schwache Ausflüchte, um sich dem zu entziehen, werden ihr in den nächsten zwei Wochen einfallen, aber sie weiß, sie wird da sein.
    Sie ruft Marg French an, die wie sie eine alte Schülerin von Miss Marsalles ist und ihre Zwillinge zu ihr geschickt hat, und sie bedauern sich eine Weile lang und versprechen, zusammen hinzugehen und sich gegenseitig moralischen Beistand zu leisten. Sie erinnern sich an das vorletzte Jahr, als es regnete und die kleine Diele voller übereinandergehäufter Regenmäntel war, weil es keinen Platz gab, um sie aufzuhängen, und die Regenschirme Pfützen auf den dunklen Fußbodentropften. Die Kleider der kleinen Mädchen wurden zerdrückt, weil sie alle so eng zusammenrücken mussten, und die Fenster im Wohnzimmer ließen sich nicht öffnen. Im letzten Jahr bekam ein Kind Nasenbluten.
    »Natürlich war Miss Marsalles nicht daran schuld.«
    Sie kichern ratlos. »Nein. Aber solche Sachen sind früher nicht passiert.«
    Und das stimmt; darum geht es. Es herrscht ein Gefühl gegenüber den Festen von Miss Marsalles, das sich kaum in Worte fassen lässt; die Dinge geraten außer Rand und Band, alles kann passieren. Es gibt sogar während der Fahrt zu diesem Fest einen Augenblick, in dem man sich fragt: Wird sonst noch jemand da sein? Denn mit das Irritierendste an den letzten zwei oder drei Festen war die wachsende Lücke in den Reihen der Stammgäste, der alten Schülerinnen, deren Kinder die einzigen neuen Schüler von Miss Marsalles zu sein scheinen. Jeder Juni bringt neue und sicherlich bedeutsame Ausfälle. Mary Lamberts Tochter nimmt keinen Unterricht mehr; die von Joan Crimble auch nicht. Was hat das zu bedeuten?, denken meine Mutter und Marg French, Frauen, die in die Vororte gezogen sind und manchmal von dem Gefühl geplagt werden, dass sie zurückgefallen sind, dass ihre Instinkte dafür, stets das Richtige zu tun, abgestumpft sind. Klavierstunden sind nicht mehr so wichtig wie früher, das wissen alle. Tanzen gilt jetzt als günstiger für die Gesamtentwicklungdes Kindes – und die Kinder, zumindest die Mädchen, scheinen nicht so viel dagegen zu haben. Aber wie soll man das Miss Marsalles erklären, die sagt: »Alle Kinder brauchen Musik. Alle Kinder lieben im Herzen Musik.« Es ist einer von Miss Marsalles’ unzerstörbaren Glaubenssätzen, dass sie Kindern ins Herz blicken kann und dort einen Schatz an guten Absichten und eine natürliche Liebe zu allen guten Dingen vorfindet. Die Streiche, die ihre altjüngferliche Sentimentalität ihrem ursprünglich guten Urteilsvermögen gespielt hat, sind legendär und ungeheuerlich; sie hat eben eine Art, von Kinderherzen zu sprechen, als seien sie etwas Heiliges; Eltern fällt es schwer, darauf etwas zu erwidern.
    Früher, als meine Schwester Winifred bei ihr Unterricht hatte, war das in Rosedale; dort befand sich schon immer
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