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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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die wir so unnötigen Demütigungen ausgesetzt wurden durch den Anblick ihrer Augen, die sich infolge einer vorübergehenden Lähmung ihrer Augenmuskeln nach oben verdrehten, durch den Klang ihrer lallenden Stimme, deren peinliche Äußerungen wir den Außenstehenden übersetzen mussten. Ihre Krankheit war so bizarr in ihren Auswirkungen, dass wir am liebsten Entschuldigungen gerufen hätten (obwohl wir bleich und starr blieben), als begleiteten wir eine besonders geschmacklose Clownsnummer. Alles nutzlos, unser Stolz, die wilden Karikaturen, die wir einandervorspielten, um uns von unserer Wut zu befreien (nein, keine Karikaturen, denn sie war selbst eine; Nachahmungen). Wir hätten sie der Stadt überlassen sollen, die wäre besser mit ihr umgegangen.
    Über Maddy und ihre zehnjährige Krankenpflege sagen die Leute sehr wenig; vielleicht wollen sie meine Gefühle schonen, da ich ja diejenige war, die weggegangen ist, und nun dafür zwei Kinder vorzuweisen hat, während Maddy allein ist und nichts hat als das bedrückende Haus. Aber das glaube ich nicht; in Jubilee werden die Gefühle nicht derart geschont. Und die Leute fragen mich rundheraus, warum ich nicht zur Beerdigung nach Hause gekommen bin; ich bin froh, die Ausrede des Schneesturms zu haben, der in jener Woche den Flugverkehr lahmlegte, denn ich weiß nicht, ob ich überhaupt gekommen wäre, nachdem Maddy mich in ihrem Brief so heftig aufgefordert hatte, fernzubleiben. Ich hatte das deutliche Empfinden, dass es ihr gutes Recht war, damit allein zu sein, wenn sie das so wollte, nach all der Zeit.
    Nach all der Zeit. Maddy war diejenige, die blieb. Erst ging sie fort aufs College, dann ging ich. Du gibst mir vier Jahre, danach gebe ich dir vier Jahre, sagte sie. Aber ich habe dann geheiratet. Sie war nicht überrascht; sie verlor die Geduld mit mir wegen meiner elenden, nutzlosen Schuldgefühle. Sie sagte, sie habe immer vorgehabt, zu bleiben. Sie sagte, Mutter »plage«sie nicht mehr. »Unsere Horrormutter«, sagte sie, »ich lasse es jetzt laufen, ich lasse sie sein, wie sie ist. Ich versuche nicht mehr, sie menschlich zu machen. Du weißt schon.« Es wäre alles viel einfacher, wenn man sagen könnte, dass Maddy gläubig ist, dass sie die Freuden der Selbstaufopferung genießt, die mystische Anziehungskraft der totalen Zurückweisung. Aber wer kann das von Maddy sagen? Als wir Teenager waren und unsere alten Tanten, Tante Annie und Tante Lou, zu uns von pflichtbewussten Söhnen oder Töchtern sprachen, die alles für einen schwerkranken Vater oder eine schwerkranke Mutter aufgegeben hatten, hielt ihnen Maddy respektlos die Ansichten der modernen Psychiatrie entgegen. Und doch blieb sie. Mein einziger Trost ist und war immer der Gedanke, dass sie vielleicht fähig war oder sich sogar dafür entschieden hatte, ohne Zeit und in völliger, wenn auch nur imaginärer Freiheit zu leben, wie es Kinder tun, mit unverstellter Zukunft, in der alle Möglichkeiten offenstehen.
    Um das Thema zu wechseln fragen mich die Leute, wie es ist, wieder in Jubilee zu sein. Aber ich weiß es nicht, ich warte immer noch darauf, dass etwas es mir sagt, mich begreifen lässt, dass ich zurück bin. An dem Tag, an dem ich von Toronto mit meinen Kindern auf dem Rücksitz des Autos herfuhr, war ich auf dem letzten Stück der Zweitausendfünfhundert-Meilen-Strecke sehr müde. Ich musste einem komplizierten System aus Highways und Nebenstraßen folgen, denn es gibt keinen einfachen Weg nach Jubilee, ganz egal, woher man kommt. Dann gegen zwei Uhr nachmittags sah ich plötzlich, so vertraut und doch unerwartet, die protzige, abblätternde Kuppel des Rathauses vor mir, die in keinem Verhältnis zur übrigen quadratischen, schmutzig grauroten Backsteinarchitektur der Stadt steht. (Darunter hängt eine große Glocke, auf dass sie im Falle einer mythischen Katastrophe ertöne.) Ich fuhr die Hauptstraße entlang – eine neue Tankstelle, neuer Putz auf der Fassade des Queen’s Hotel – und bog in die stillen, verfallenden Seitenstraßen, wo alte Jungfern wohnen und Vogelbäder und Rittersporn in ihren Gärten haben. Die großen, mir wohlbekannten Backsteinhäuser mit ihren hölzernen Veranden und den gähnenden dunklen Fliegengitterfenstern hatten für mich etwas Selbstverständliches und zugleich Unwirkliches. (Jeder, dem ich von der träumerischen, versunkenen Atmosphäre dieser Straßen erzählt habe, will mit mir zum nördlichen Ende der Stadt fahren, wo es eine neue
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